George Steiner ist tot : Ein Leben für die Gelehrsamkeit, für Kunst und Kultur
London/Aachen Wahrscheinlich haben in den vergangenen Jahrzehnten wenige Menschen so viel nachgedacht wie er: Für George Steiner war das Denken Auftrag und Lebenselixier. Nun ist er im Alter von 90 Jahren gestorben.
Der amerikanische Universalgelehrte, Philosoph, Wissenschaftstheoretiker und Literaturkritiker ist am Montag in Cambridge in England im Alter von 90 Jahren gestorben. Mit analytischer Schärfe, essayistischem Talent und außergewöhnlicher Sprachgewalt beteiligte er sich bis ins hohe Alter am Wissenschaftsbetrieb und an intellektuellen Debatten.
Steiner stammte aus einer jüdischen Familie, die 1940 in die USA emigrieren musste; nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Europa zurück. Sein Werk kreist um Sprache und Schrift, um Religion, Musik, Malerei und Geschichte. Jahrzehntelang analysierte er die Ursachen des Antisemitismus und wie Victor Klemperer („Lingua Tertii Imperii“) die Verbindung von deutscher Sprache und NS-Jargon. Umfassend gebildet und mit brillantem Stil behandelte er seine Themen und vermittelte Liebe zu Kunst und Kultur.
George Steiner wollte im besten Sinne belehren. Vielleicht ist aus seinem großen und tiefgründigen Oeuvre besonders typisch ein kleines Buch, in dem er „zehn (mögliche) Gründe“ nennt, „warum Denken traurig macht“, so der Titel des Werks, das im Suhrkamp-Verlag nach wie vor erhältlich ist. Denken ist für Steiner immer mit Zweifeln behaftet, meist ziellos und zerstreut, nie geradlinig, sondern ungeordnet, weil ständig Störungen ausgesetzt. Es fehle Konzentration. Man wisse nie wirklich, was der andere – noch so vertraute – denkt und sei nie gegen Täuschungen gefeit.
Jede Wahrheit ist, so Steiner, revidierbar. Sprache, die das Denken aufnimmt, sei zu mehrdeutig, um die Wahrheit zu treffen. Oft genug wolle Sprache Herrschaft über das Denken, statt dem Denken die Herrschaft zu überlassen. „Das Denken verhüllt mehr, wahrscheinlich weitaus mehr, als es enthüllt.“ Steiner beklagte, dass konzentriertes, schöpferisches Denken zu wenig gelehrt und gefördert werde.
Nichts lässt sich zu Ende denken; Denken ist immer unerledigt. Wer hat schon so wunderbar, so traurig und so erhellend übers Denken nachgedacht wie er?