Trauer um Ruth Klüger : Als Zeitzeugin streitbar, literarisch, unsentimental
Aachen Sie hat das Grauen von Auschwitz und Theresienstadt überlebt, weil sie innere Widerstandskraft spürte; die gab ihr die Literatur. Später wurde Ruth Klüger eine angesehene Literaturwissenschaftlerin und eindrucksvolle Zeitzeugin der Shoah.
Als Sechsjährige spürte sie 1938 zum ersten Mal, dass sie schutzlos war. Das kleine jüdische Mädchen durfte sich in Wien auf keine Parkbank mehr setzen. Seitdem hat das Gefühl der Unsicherheit Ruth Klüger nie mehr verlassen. „Ich kenne es nur so. Ich kann es mir gar nicht anders vorstellen. Ich habe immer das Gefühl, dass man alles verlieren kann“, hat sie in einem Interview mit unserer Zeitung gesagt.
Als sie elf Jahre alt war, wurde Klüger nach Theresienstadt, später nach Auschwitz und in das Frauenlager Christianstadt verschleppt. Wie sie das Grauen überlebte, hat sie in „weiter leben“ auf besondere Art beschrieben, wie man es vorher und nachher nie gelesen hat: unsentimental, verstörend, aufrüttelnd. Sie hat somit viel dafür getan, dass Nachgeborene das Leid der Opfer in etwa nachvollziehen können.
Im jahrelangen Überlebenskampf mobilisierte sie unbedingten Willen zum inneren Widerstand mit Hilfe der Literatur – mit Gedichten von Friedrich Schiller und nicht zuletzt mit denen, die sie selbst verfasste. „Ich habe den Verstand nicht verloren; ich habe Reime gemacht“, hat sie gesagt. Es gelang ihr, die Shoah literarisch durchzustehen und der Nachwelt das damalige Grauen literarisch zu vermitteln.
Kurz vor Kriegsende konnte Ruth Klüger mit ihrer Mutter fliehen. 1947 emigrierte sie in die USA, studierte Germanistik, bekleidete mehrere Lehrstühle, wurde zu einer international renommierten Literaturwissenschaftlerin und kam seit den 80er Jahren häufig nach Deutschland – als Lessing- und Kleist-Expertin und als Zeitzeugin. Das Manuskript ihres großartigen Buches „weiter leben“ wies Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld zurück. Es wurde – dann für den Wallstein-Verlag – ein spektakulärer Erfolg und in zehn Sprachen übersetzt. Die Ehrendoktorwürde der RWTH Aachen lehnte Klüger 1995 ab, weil sie dort keine Auszeichnung annehmen wollte, wo fünf Jahre zuvor der frühere TH-Rektor Hans Schwerte, der später als SS-Mann enttarnt wurde, zum Ehrensenator ernannt worden war. Öffentlich und deutlich brach sie 2002 mit ihrem Freund Martin Walser, weil sie dessen Buch „Tod eines Kritikers“ als tendenziell antisemitisch empfand.
Über die Zeit nach 1945 berichtete Klüger 2008 in ihrem zweiten Erinnerungsbuch „unterwegs verloren“. Sie schrieb es bissig und voller Lakonik, als streitbare Feministin und hellwache Intellektuelle.
Klüger würdigte durchaus die deutsche Aufarbeitung der NS-Zeit, kritisierte aber entschieden fehlendes Mitgefühl, Leugnen, Wegsehen, Unverständnis und Selbstmitleid im Land der Täter und warnte vor dem Hang zu neuem Nationalbewusstsein. Als sie – trotz ihrer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Gedenkroutinen – am 27. Januar 2016, dem Holocaust-Gedenktag, im Deutschen Bundestag sprach, nahm sie am Ende ihrer Rede den kurzen Satz auf, über den in den letzten Wochen und Monaten wieder so viel diskutiert wurde: „Wir schaffen das.“ Sie nannte ihn heroisch.
2001 war sie Gast unserer Zeitung in Aachen. Man konnte sie erleben: kämpferisch und weitherzig, zugewandt und offen – gerade im Gespräch mit Jugendlichen. Die Zahl derer, die die Shoah erlebt haben, ist klein geworden. Mit Ruth Klüger ist eine der markantesten und aufmerksamsten Zeitzeuginnen verstummt.