Aachen : Die Fragen des Leben muss jeder für sich beantworten
Aachen Die Jury des 22. NRW-Theatertreffens muss mobil sein - nicht nur in geistiger Hinsicht.
Nachdem im voll besetzten Mörgens die Inszenierung der Westfälischen Kammerspiele Paderborn von Mark Ravenhills Stück „Gestochen scharfe Polaroids” zu sehen war, hob sich im Großen Haus der Vorhang für Brechts „Leben des Galilei”, eine Arbeit der Vereinigten Bühnen Krefeld Mönchengladbach - vor gut gefülltem Zuschauerraum. Die anschließenden Publikumsrunden waren interessant...
Ein Abend mit „Haken und Ösen”: Noch bevor sich Joachim Henschke als imposanter Hauptdarsteller in Bertolt Brechts „Leben des Galilei” das Eiswasser auf den nackten Oberkörper klatschen kann, treten ein paar Irritationen ein.
Der geplante Beginn um 20 Uhr verschiebt sich, es wird 20.15 Uhr, schließlich 20.30 Uhr. Die Lehrerin einer Klasse aus Geilenkirchen blickt nervös auf die Uhr - wird das mit dem Nach-Hause-Zug noch klappen?
Zunächst heißt es, die Jury sei verspätet. Dann der wahre Grund: Zwei Computersysteme, die das Licht regeln sollen - aber streiken, weil sie sich nicht vertragen, und dann doch irgendwie Licht liefern.
Die Inszenierung der Vereinigten Bühnen Krefeld/Mönchengladbach wird zur Gratwanderung für Intendant und Regisseur Jens Pesel, der hinter der Bühne versucht, die Probleme zu lösen.
„Die Bühne bei uns ist vier Meter breiter, das macht viel aus”, sagt er im nachfolgenden Publikumsgespräch, an dem auch Dramaturg Jörg Huwer teilnimmt.
Moderator ist Theaterkritiker Heinz Klunker - leider nimmt keiner der Akteure teil, auf die man sich eigentlich gefreut hat. „Alle schon auf dem Heimweg”, meint Jens Pesel entschuldigend.
Er kann in diesem Moment nicht wissen, dass einige aus seinem Ensemble das kühle Bierchen auf dem Rasenplatz vorziehen...
„Ist Brecht out?” eröffnet Klunker das Gespräch. Natürlich folgt ein Nein. Der Regisseur: „Angesichts der Debatte um Genforschung, Stammzellen und Biotechnologie ist die Nutzanwendung des Stücks für die Gegenwart unübersehbar.”
Empörung bei einer Zuschauerin: Pesel hat Szenen gestrichen, zum Beispiel am Schluss. „Bei Brecht ist das Ende des Stückes, wenn Galileis Schüler sein Wissen weitergibt, optimistischer, doch ich teile diesen Optimismus nicht.”
Ist seine Inszenierung „nicht radikal genug”, wie ein Besucher meint? „Es geht darum, dass man Verantwortung übernimmt für das, was man herausfindet, es geht um das destruktive Potential der Wissenschaft, das ist radikal!”
Und warum keine historischen Kostüme? Pesel fasst den für ihn wichtigsten Gehalt in einem Satz zusammen: „Hier steht nicht das Abbilden einer Zeit im Vordergrund. Es geht um Grundprobleme.”
Genau die verbergen sich auch in Mark Ravenhills „Gestochen scharfe Polaroids”, stellten nach zwei Stunden die schweißgebadeten Zuschauer im kochenden Mörgens fest, und das von philosophischem Format: „Worin liegt der Sinn des Lebens? Was ist wahre Liebe?”
Moderiert von Intendant Paul Esterhazy, drehte sich die anschließende Diskussion um eine ernüchternde Bestandaufnahme unserer Gesellschaft, wie Ravenhill sie so scharf und zugleich erschreckend gnadenlos abgebildet hat: Allgemeines Desinteresse und Sinnlosigkeit sind tragende Elemente unserer geistigen Welt.
Am Wochenende Abfeiern ist angesagt, jemanden zu „erobern”, das ist keine Liebe, sondern allenfalls ein unterhaltsamer „Kick”.
Die Zuschauer drückten ihre Betroffenheit und ihre Nachdenklichkeit aus, beglückwünschten andererseits das Paderborner Team, allen voran Regisseurin Karin Drechsel zu ihrer geglückten Produktion - die prinzipiell auch keine Antwort finden kann auf die entscheidenden Fragen des Lebens. Die muss jeder für sich alleine suchen...