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Simferopol: Dicht an dicht Aachener „Beutekunst”

Simferopol : Dicht an dicht Aachener „Beutekunst”

Das Ziel ist erreicht. Nach 45 Minuten Flug von Düsseldorf nach Amsterdam, zweieinhalb Stunden von Amsterdam nach Kiew, weiteren eineinhalb Stunden Busfahrt vom Flughafen zum Bahnhof und schließlich 15 Stunden abenteuerlicher Fahrt mit dem Nachtzug sind wir ziemlich erschöpft endlich angekommen: in Simferopol, Hauptstadt der Autonomen Republik Krim im Süden der Ukraine, 700 Kilometer von Kiew entfernt.

Die Sonne strahlt bei milden acht Grad, und die Spannung steigt - langsam, aber unaufhörlich. Wie mag es wohl aussehen, das Kunstmuseum Simferopol? Was wird die Museumsdirektorin sagen? Wie wird sie die Gäste aus dem fernen Aachen empfangen? An jenem Ort, wo im November sensationellerweise 87 Gemälde aus dem Suermondt-Ludwig-Museum aufgetaucht sind.

Zufällig entdeckt von einem bayerischen Touristenpaar, das auch noch des Russischen mächtig ist und eine Hinweistafel mit Angaben über die Herkunft der Kunstwerke lesen konnte: „Wir stellen hier Bilder vor, die mehr als 60 Jahre nicht gezeigt wurden - aus der Sammlung des berühmten Aachener Suermondt-Ludwig-Museums.”

Sonst unter Verschluss

Derart offen ist „Beutekunst”, die bis auf Einzelfälle bislang weltweit unter Verschluss gehalten und schon gar nicht ausgestellt wurde, noch niemals gezeigt und so unverblümt bezeichnet worden. Grund genug für unsere Zeitung, die weite Reise zu unternehmen, um die Geschichte der Aachener Kunstsammlung aufzuklären - bevor Mitte Januar die Leitung des Suermondt-Ludwig-Museums selbst eine Expedition nach Simferopol unternimmt.

Auf der nach wie vor russisch geprägten Halbinsel Krim am Schwarzen Meer wackelt Lenins Denkmal noch lange nicht - trotz der seit 1991 bestehenden ukrainischen Unabhängigkeit. Stramm blickt er überlebensgroß auf dem großen Platz im Zentrum der Stadt von seinem Sockel herab. Nach kurzem Sprung zu einem Ein-Sterne-Hotel, der viel länger ausfällt als erwartet, weil in dem offensichtlich nach altsowjetischer Art geführten Haus die Rezeption stundenlang nicht besetzt ist, und erst die Beschwerde bei einem ziemlich daherschnauzenden Direktor Abhilfe schafft, machen wir uns auf den Weg zum Museum.

Adresse: Karl-Liebknecht-Straße 35. Persönlich begleitet werden wir von jenem „ominösen E-Mail-Schreiber aus der Ukraine”, der unserer Zeitung im November eine weitere Sensation in Sachen Aachener Beutekunst offenbart hatte: dass er zusammen mit Dr. Sergej Kot bereits zweimal, 2003 und 2004, im Suermondt-Ludwig-Museum vorstellig war mit einer Liste verschollener Aachener Bilder und offensichtlich der genauen Kenntnis, wo sie sich befinden. Doch die Aachener Museumsleute misstrauten ihnen damals und hakten nicht weiter nach . . .

Mario David Netter heißt unser nur zu Anfang „ominös” erscheinende E-Mail-Schreiber, er war 2003 und 2004 als Freund und Assistent Sergej Kots in Aachen dabei. Der 38-Jährige, der in Bremen Kulturgeschichte Osteuropas, Polonistik und Geschichte studierte - dessen Mutter aus Aachen stammt, dessen Vater an der RWTH Aachen Maschinenbau sowie Flug und Raumfahrt studierte, anschließend an der Bremer Universität promovierte -, lebt seit 2001 in Kiew. Er kennt die Ukraine wie seine Westentasche und versteht mit der noch teilweise gerade im Osten und Süden der Ukraine vorherrschenden sowjetischen Mentalität souverän umzugehen. Netter spricht Russisch, Ukrainisch, Polnisch und hat unsere Simferopol-Reise organisiert. Ohne ihn wäre der Trip unmöglich gewesen: In der Ukraine spricht kaum ein Mensch Englisch, und lateinische Schrift sucht man vergeblich, das Alltagsbild ist ausschließlich kyrillisch geprägt.

Abseits einer bescheidenen Fußgängerzone erreichen wir die Karl-Liebknecht-Straße. Trümmergrundstücke und verfallende Werkstätten beherrschen die Umgebung - offensichtlich nicht unbedingt die Schokoladenseite von Simferopol. Das bayerische Touristenpaar muss schon sehr kunstsinnig sein, dass es hier so zielgerichtet ein Museum angesteuert hat. Doch dann die Überraschung: Durchaus adrett, mit frisch wirkendem, hellem Anstrich, hebt sich das Museum deutlich von der tristen Nachbarschaft ab. Und es ähnelt sogar in seiner villenartig erhabenen Erscheinung seinem Aachener Pendant. Bronzetafeln links und rechts des Säulenportals weisen es auf Russisch und Ukrainisch aus: „Kunstmuseum Simferopol”.

An Personal mangelt es jedenfalls nicht - noch im Eingangsbereich treffen wir auf sechs Bedienstete: eine Gardobiere, eine über der Treppe thronende Kassiererin, gegenüber eine Wächterin und drei Herren an einem Tisch in munterem Plausch begriffen.

Zehn Minuten vergehen nach unserer Anmeldung, dann begegnet uns die Direktorin wie eine Erscheinung: Statt einem befürchteten feist abweisenden Apparatschik-Überbleibsel aus sowjetischen Zeiten schreitet eine hübsche, gertenschlanke junge Dame mit langen, schwarzen Haaren und großen Augen freundlich lächelnd die Treppe herab: Larina Vladimirovna Kudryashova - Krimtatarin, wie sie uns später erzählen wird. Krimtataren, das sind die Nachkommen all jener Völker, die auf der Krim lebten oder sie eroberten - von Mongolen über Griechen, Hunnen bis zu Türken, Venezianern und Genuesern.

Wir haben den Eindruck, gern gesehen zu sein. Sergej Kot hatte uns vorab angekündigt und einen Gesprächstermin vereinbart. „Schauen Sie sich erst einmal um”, sagt sie auf Russisch und entschwindet wieder. Bis zum vereinbarten Gesprächstermin ist noch eine knappe Stunde Zeit, und so suchen wie die Aachener Bilder.

Rechts von der Treppe öffnet sich ein großer Saal. Dicht an dicht hängen hier die Gemälde. Die großen Kronleuchter an der Decke sind ausgeschaltet, wir bitten die Wärterin, sie einzuschalten. Und tatsächlich: Die „Toten Fische” Jan Dirvens aus dem 17. Jahrhundert fallen sogleich ins Auge sowie „Bacchus und Pan als Knaben” von Cagnacci (1601-1681). Unverkennbar Johann Carl Loths (1632-1698) „Satyr mit Weinkrug”, allerdings etwas dunkler als in der Abbildung auf der Homepage der aktuellen Ausstellung des Suermondt-Ludwig-Museums, „Schattengalerie - Verlorene Werke der Gemäldesammlung” (schattengalerie.info).

Wir zählen nach: 87 Bilder sind auf vier Wänden verteilt, Rahmen an Rahmen vom Boden bis zur Decke aneinandergereiht, ganz nach Art der „Petersburger Hängung”, wie sie von der Fachwelt bezeichnet wird. Die Eremitage mit ihrer beeindruckenden Fülle bildet ganz offensichtlich das Vorbild. Im deutschen Schloss Moyland findet man heute noch die Beuys-Werke auf diese Art präsentiert.

Doch wo befindet sich die Ikone des Ganzen, deren Herkunft so unverkennbar ist? Die Nachrichtenagentur Associated Press hatte im November ein Foto davon verbreitet: Johann Gottfried Pulians Gemälde „Das Aachener Münster” von 1854/55. In einer Ecke des Saals finden wir es, in Brusthöhe gehängt.

Offensichtlich ist man sehr liebevoll mit den Werken umgegangen, sie präsentieren sich - unter Vorbehalt eingeschätzt, so weit das ein Laie beurteilen kann - in ausgezeichnetem Zustand und prachtvoll gerahmt: zum Beispiel die „Herbstsonne” von August von Brandis (1859-1947) und der „Oktobermorgen zu Amsterdam” von Hans Hermann (1858-1942).

„Als die Bilder hierher kamen, befanden sie sich in einem sehr, sehr schlechten Zustand”, erzählt Museumsdirektorin Larina Vladimirovna in ihrem Büro...