Aachen : Deutschland kommt auf den Prüfstand
Aachen Sie ist nicht angenehm und schön, die neue Aachener „Lohengrin”-Produktion. Wer also ein ästhetisches Märchen aus ferner Zeit erleben möchte, muss weiterhin zu Klaus Maria Brandauers sanftem „Lohengrin” nach Köln fahren.
Ludger Engels und Marcus R. Bosch haben stattdessen aus Richard Wagners 1850 in Weimar uraufgeführter romantischer Oper ein aktuelles wie historisch nachforschendes Deutschlandporträt entwickelt, das Freude und Angst macht, das satirisch zeichnet und dennoch Wunder geschehen lässt - eine Deutschlandretrospektive zwischen Heinrich Heines „Nachtgedanken” und Sönke Wortmanns „Sommermärchen”.
Die gleichberechtigten Säulen des Stücks - Wagners Kunstidee als nationaler Gedanke, Mythos und Glaube und Politik und Macht - verbindet Ludger Engels mit der Frage „Wer und was ist und war Deutschland?”, bei Wagners nationalistischster Oper neben den „Meistersingern” eine berechtigte Frage.
Frauenbild und Männerideale, Massenpsychologie und Ideologien - alles kommt auf den Prüfstand. Das geschieht schmucklos auf karger Arbeits-bühne, die lediglich bestückt wird mit Emporenelementen und funktionellen Requisiten.
Wie typisch deutsch ist doch das Beamtentum bei der Gerichtsverhandlung von Elsa, das akribisch Schuldbeweise per Aktenordner und Zweitkopien liefert, die bei wechselndem Polit-System schnell im Schredder landen. Den ostdeutschen Sozialismus siedelt Engels ernst, uneitel und frustriert um Ortrud und Telramund an.
Westlich versnobt in verspielter Realitätsferne zeigt sich Elsas adelige Glamourwelt. Die manipulierende Demagogie global herr-schender Politiker findet sich hingegen in Details wie in der blonden Hitlerfrisur des Heerrufers oder der kumpelhaften Bush-Fliegerjacke König Heinrichs wieder.
Dazwischen reagiert und funktioniert das sich optisch anpassende Volk, mal blind gehorchend, mal demonstrierend, mal feiernd, selbstverständlich immer mit blondem Strähnchen im Haar. Der Chor ist hier szenisch ständig ge-fordert und bewältigt „so nebenbei” noch eine nahezu fehlerfreie Umsetzung der schwierigen, repräsentativen Chorsätze. Auf diesen Klangkörper kann Frank Flade stolz sein.
Insgesamt ist das musikalische Niveau beglückend hoch. Marcus R. Bosch hat die Tücken der Theaterakustik souverän „geknackt”, und jeder Sänger ist exquisit zu hören.
Doch das Orchester ist nicht nur rücksichtsvoller Begleiter, sondern liefert zugleich die Initialzündungen für Adrenalinschübe und Rührungen auf einer nie abfallenden Spannungskurve. Lediglich bei der Koordination der extern positionierten Blechbläser mit dem Orchestergraben muss im 3. Akt noch nachgebessert werden.
Das zahlreich erschienene Publikum feierte den neuen Aachener „Lohengrin” mit Standing Ovations und jubelndem Applaus für Sänger und Orchester. Das Bravo-Buh-Gefecht beim Erscheinen des Regieteams ging unentschieden aus.