Jüdisches Schicksal in radikaler Zeit : „Stadt der Geheimnisse“ ist schlicht, aber keineswegs schlecht
Aachen Der neue Roman von Stewart O’Nan ist überraschend wie immer und ganz anders als sonst. 1945/46 versucht in Jerusalem ein lettischer Jude, sein Leben in den Griff zu bekommen.
Das ist nun keine Frage, sondern ein klares und unverrückbares Ausrufezeichen: Was für ein Autor ist dieser Stewart O’Nan! Er hat gewiss schon längst ein ganz persönliches literarisches Kulturerbe geschaffen, der 1961 in Pittsburgh (Pennsylvania) geborene amerikanische Schriftsteller. Er gehört zu den Großen seiner Zunft, und seine Bücher dokumentieren in ihrer bemerkenswerten Vielfalt, in ihrem beachtlichen Themen-Portfolio und bestimmt auch in ihrer dann immer wieder überraschenden Andersartigkeit die Brillanz und Konstanz, die seine große Leserschaft auch in Deutschland erklären.
Und so muss der Autor dieser Rezension frank und frei erklären, dass er ein regelmäßiger Leser der O’Nan-Romane ist und sich mit der Befangenheit einer durchaus vorhandenen Faszination für das Œuvre auf das aktuelle Buch „Stadt der Geheimnisse“ eingelassen hat. Und erstmals mischte sich in die Lektüre eine deutliche Spur von Enttäuschung, weil diesem Werk der Bann fehlt, in den andere Bücher des Autors den Leser regelmäßig ziehen. Diesmal ist es eine zuweilen zähe Angelegenheit, weil O’Nans Kunst, Atmosphäre zu beschreiben, Klima zu erfinden, Personen lebendig werden zu lassen, allenfalls in geringen Dosierungen serviert wird, in zu kleinen Portionen – leider.
Dem Holocaust entkommen
Das Buch beginnt schon vor der ersten wirklichen Seite mit einem durchaus peinlichen historischen Fehler. Im Klappentext heißt es: „Jerusalem, 1947.“ Einer der Höhepunkte der Dramaturgie des Romans ist der reale Überfall auf das King David Hotel am 22. Juli 1946. Nun denn, das ist nicht Schuld des Autors, sondern des Verlages, aber dennoch ein schlechter Auftakt.
Stewart O’Nan hat das Genre des Romans perfektioniert mit Sprache, Bildern, Rollen, Porträts, und das stets mit dem sensibel entworfenen Drehbuch einer niedergeschriebenen Alltagswelt, die in dieser individuellen Form eleganter Literatur zum Außergewöhnlichen mutiert. Beispiele: „Sommer der Züge“ präsentiert uns die amerikanische Provinzfamilie in einem Strandhaus auf Long Island mit allen ebenso dramatischen wie unspektakulären Facetten von Verrat, Glück, Liebe und Betrug, Schuld und Vergebung. „Emily allein“ ist ein einfühlsames Porträt einer reifen, älteren Frau, Emily Maxwell, die am Ende ihres Lebens noch mal neu und unbeschwert startet. In „Letzte Nacht“ begegnen wir in einer Provinzstadt an der amerikanischen Ostküste den armen Seelen einer Restaurantketten-Filiale, die kurz vor der Schließung und kurz vor Weihnachten zwischen Retrospektive, Verzweiflung und Hoffnung schweben.
Und in „Stadt der Geheimnisse“? Natürlich ist auch dieses Buch ein Beleg für die Wandlungsfähigkeit des Autors, für seine Fähigkeit uns zu überraschen. O’Nan verlässt Amerika und wählt Jerusalem als den Ort des radikal anderen Inhalts seines radikal anderen Romans. Er versetzt uns in die Nachkriegszeit 1945/46, in die seltsame Interimszeit zwischen dem Kriegsende, der britischen Besatzung und der späteren Gründung des Staates Israel. Ein „Thriller“, wie manche das Werk bezeichnen“, ist es wohl kaum, auch keine Dokumentation, ein Roman ja, aber eben anders als sonst; schlicht, aber keineswegs schlecht.
Jossi Brand ist unsere Hauptfigur, die sich als Held nicht eignet. Dem KZ und dem Holocaust entkommen, lebt er zwischen dem Bemühen, in Jerusalem ein neues Leben zu beginnen, und seinen zuverlässig wiederkehrenden Schuldgefühlen. Und so beginnt des Buch: „Als der Krieg kam, hatte Brand Glück, weil er jung war und, im Gegensatz zu seiner Frau Katja, seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Giggi, auch im Gegensatz zu seinen Großeltern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen, Motoren reparieren konnte, blieb ihm der Tod erspart. Als Lette und Jude wurde er zuerst von den Russen, dann von den Deutschen, dann wieder von den Russen interniert. Durch Zufall blieb er am Leben.“
Der Jude aus Lettland hat es per Schiff geschafft, als illegaler Flüchtling nach Palästina zu gelangen. Die zionistische und paramilitärische Untergrund-Organisation „Haganah“ gibt ihm falsche Papiere und einen alten Peugeot, der die mobile Basis seiner Tarnung als Taxifahrer bildet. Er karrt vornehmlich amerikanische Touristen durch Jerusalem und zeigt ihnen die Sehenswürdigkeiten. Das Fahrzeug mit dem doppelbödigen Kofferraum hat unterdessen zu anderen Tages- und Nachtzeiten gefährlichere Einsätze und ist mit seinem Fahrer aktiv an Terrorakten beteiligt.
O’Nan beschreibt detailreich Planung und Ausführung der Sprengstoffanschläge, er kombiniert sie mit den Gewissensbissen des ehemaligen KZ-Häftlings, der nun seinerseits andere Menschen direkt bedroht. In die historische Dimension webt der Autor eine Liebesgeschichte, angenehm nüchtern, jenseits aller Theatralik und Übertreibung. Jossis Freundin Eva, eine Prostituierte, horcht im King David Hotel britische Freier aus und kommt so an wertvolle Informationen für ihre Freunde, die Untergrundkämpfer.
Der Waffe entledigt
Jossi bleibt unterdessen in der Rolle des Helfers, des Mitläufers, des Handlangers stecken: Er ist ein kleines Licht, er hat das zu tun, was man ihm mitteilt – ein kleines Rädchen im Räderwerk des Terrors. Am Ende entzieht er sich dieser Welt, die ihm keine neue Heimat, keine neue Perspektive, kein neues Leben jenseits des Holocausts und des Verlustes seiner kompletten Familie bieten kann. „So händeringend er alles vergessen wollte, umso inniger musste er sich erinnern. Katja und Eva, seine Eltern und Giggi... Er war ihnen etwas schuldig und gelobte, von jetzt an so ehrlich wie möglich zu leben. In der Wüste entledigte er sich der Waffe, warf die Patronen wie Steine in den Wind. Nicht länger Soldat oder Häftling, war er jetzt frei.“
Ein anderer Stewart O’Nan. Ach: Man sollte sich getrost darauf einlassen!