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„Denn es will Abend werden“ von Anna Enquist: Schmerz und Betäubung sind keine Gegenteile

„Denn es will Abend werden“ von Anna Enquist : Schmerz und Betäubung sind keine Gegenteile

Manchmal ist es ein Satz aus einem Quartett von Dvorak oder einer aus Schuberts „Rosamunde“, der die Erinnerung zum Leben erweckt. 20 Jahre lang haben Jochem, Carolien, Heleen und Hugo zusammen gespielt. Aber nicht nur ihre Bratsche, ihr Cello und ihre Geigen sind zerstört worden, sondern auch ihre Freundschaft. Und ihr Leben, wie es „vor dem Unglück“ war.

Je nach Typ entwickeln sie Ängste, kehren nicht an ihren Arbeitsplatz zurück, entwerfen sich als Person komplett neu oder treten die Flucht an.

Erst stückweise erfährt man, was passiert ist: Ein Krimineller hat das Hausboot von Hugo während einer Probe überfallen. Hat Carolien den kleinen Finger abgehackt, wollte Laura, Hugos dreijährige Tochter, als Geisel nehmen. Beim Einsatz der Polizei fliegt das Boot in die Luft. Alle überleben nur knapp. Heleen wird schwer verletzt, Laura schreit, wenn sie ihren Vater sieht. Und Caroliens alter Cellolehrer wird bei der Verfolgung des Täters umgerannt und fällt ins Koma.

Die Ehe von Carolien und Jochem droht auseinanderzubrechen. Schon Jahre zuvor haben sie Furchtbares erlebt. Ihre zwei Söhne kamen bei einem Busunfall ums Leben. Die Freundschaft zu Heleen und Hugo gab ihnen Kraft. Die Musik spendete ihnen Trost, ihre Berufe (Hausärztin und Geigenbauer) halfen, die Leere zu füllen. Nun sind sie schutzlos. Hauptsächlich aus Caroliens und Jochems Perspektive wird geschildert, wie Menschen versuchen, mit so einer Situation umzugehen. Wie sie versuchen, sich aus der Erstarrung zu lösen, den Schmerz und die Wut zuzulassen: „Alles ist wie mit Watte zugedeckt. Warten bis es vorüber ist.“

Enquist erzählt, was Musik denen bedeutet, die es lieben, sie zu machen. Und wie durch ihren Verlust, gekoppelt an andere Verluste, das Seelische bis in die Grundfesten hinein erschüttert wird. Und wie Carolien, während sie sich in China an die Bach-Kantate „Bleib bei uns, denn es will Abend werden“ erinnert, einen ersten Moment der Ruhe verspürt.

(sus)