Psychogramm zweier Frauen : Ein schauriges Wiegenlied
Aachen Wenn die Kinderfrau ihre Schützlinge umbringt: Leïla Slimani liefert mit „Dann schlaf auch du“ einen eindrucksvollen Roman, der in Frankreich mit dem wichtigsten Buchpreis ausgezeichnet worden ist.
Es ist der Alptraum aller Eltern: die eigenen Kinder tot, umgebracht von der geliebten Nounou, der Kinderfrau. Getötet ausgerechnet von dem Menschen, den sie selbst ins Haus holten und dem sie ihre Kinder anvertrauten. Leïla Slimani ist nicht zimperlich. Gleich zu Beginn ihres Romans „Dann schlaf auch du“ steht die Katastrophe. Mutter Myriam entdeckt ihre beiden Kinder: „Als sie das Zimmer betrat, in dem ihre Kinder hingestreckt lagen, hat sie einen Schrei ausgestoßen, aus tiefsten Tiefen, das Geheul einer Wölfin.“
„Chanson douce“, sinngemäß Wiegenlied, heißt das Buch im Original – doch von sanft kann keine Rede sein. Die Geschichte ist eher schaurig. Doch um Missverständnissen vorzubeugen: Auch wenn das Buch mit einem Mord und Polizeiermittlungen beginnt, handelt es sich keineswegs um einen Krimi. Nein, dieser Roman behandelt die Rolle der Frau und Klassenfragen.
Auf die Katastrophe zu Beginn folgt ein Rückblick, in dem Slimani erzählt, wie Myriam und ihr Mann Paul Tagesmutter Louise kennenlernen – und welch ein Segen die Nounou für die Pariser Mittelschichtfamilie ist. Die französisch-marokkanische Bestseller-Autorin zeichnet Psychogramme der beiden so unterschiedlichen Frauen, die im Fokus des Romans stehen.
„Dann schlaf auch du“ wurde in Frankreich mit dem wichtigsten Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Das Buch hat sich mehr als eine halbe Million Mal verkauft, stand wochenlang ganz oben in den Bestsellerlisten. Zu Recht, denn Slimanis Buch ist eine Wucht. Besonders stark ist es, wenn es den inneren Widerstreit Myriams darstellt, die gespalten ist zwischen ihren vielen Aufgaben als Juristin, als Mutter und als (Ehe-)Frau.
Myriam ist eine erfolgreiche Anwältin, die sich nach der Geburt ihres zweiten Kindes zu Hause wie eine Gefangene fühlt. Die Geschichte wird in weiten Teilen aus Myriams Perspektive geschildert. Sie will nicht von ihrer Idealvorstellung der Mutterrolle abweichen. Doch ihre Kinder Mila und Adam empfindet sie als „Anker, der einen mit nach unten reißt“. Sie weiß, dass sie nie als fürsorgliche Mutter zufrieden sein wird, sondern sie und ihre Kinder erst glücklich sein werden, „wenn wir einander nicht mehr brauchen“.
Hadern mit der Mutterrolle
Slimani setzt sich intensiv mit Frauenbildern auseinander. Erst in der vergangenen Woche äußerte sich die 36-Jährige in der französischen Tageszeitung „Libération“ zur aktuellem „MeToo“-Debatte. Dort schrieb sie: „Ich fordere die Freiheit, dass man weder meine Haltung noch meine Kleidung, meinen Gang, die Form meines Hinterns oder die Größe meiner Brüste kommentiert. (. . .) Ich will nicht nur eine innere Freiheit. Ich will die Freiheit, draußen zu leben, in der Öffentlichkeit, in einer Welt, die auch ein bisschen mir gehört.“
Aber genau an der Freiheit mangelt es ihren Protagonistinnen, die sich in den Umständen ihrer Leben gefangen fühlen. Myriam hat oft genug von ihrem Leben als Hausfrau und Mutter. „Sie möchte niemandem Bescheid sagen müssen, möchte, dass niemand sie erwartet. Aber da ist Paul. Und da sind die Kinder.“ Bei einem Abendessen mit ihrem früheren Studienkollegen, in dessen Kanzlei sie einsteigt, verspürt Myriam deshalb eine prickelnde erotische Spannung. Das Verlangen, das sie empfindet, ist gar nicht so sehr das nach einem fremden Mann, sondern das nach sich selbst. Myriam hat sich verloren, und sie schafft es nur, sich wiederzufinden.
Louise ist für Myriam und die ganze Familie ein Segen, eine Art lebendig gewordene Mary Poppins. „Sie hat das Licht hereingelassen“, so empfindet Myriam es. Louise kümmert sich nicht nur um die Kinder, sondern putzt, räumt auf, näht. Mitunter beschleicht Myriam und Ehemann Paul Unbehagen, weil ihre Kinderfrau seltsame Angewohnheiten hat. Louise ist gegenüber den Kindern äußerst streng, erzählt ihnen grausame Einschlafgeschichten, lässt sie auch beinahe verdorbene Lebensmittel essen, weil sie partout nichts wegwerfen kann. Myriam fürchtet die Nanny tatsächlich so sehr, dass sie ausgedientes Spielzeug heimlich nachts in den Müll bringt, damit die Kinderfrau bloß nichts mitbekommt.
Im Buch sei es ihr auch darum gegangen, Menschen an der Peripherie der Gesellschaft zu beschreiben, sagte sie in einem Interview. Eine Kinderfrau sei eben nicht in die „große Maschinerie des Kapitalismus“ eingebunden. Dass Louise seit dem Tod ihres Mannes Schulden hat, dass ihre Tochter Stéphanie abgehauen ist, dass sie psychische Probleme hat, interessiert das Ehepaar nicht. Hauptsache, Louise ermöglicht ihnen das Leben, das sie führen. Auch darum geht es in „Dann schlaf auch du“: das ambivalente Verhältnis der Mittelschicht zu ihren Helfern. Diesen Konflikt und die Ignoranz, mit der die Mittelschicht ihren Angestellten begegnet, schildert Slimani, ohne zu werten. „In jedem von uns gibt es einen Teil, der unbekannt bleibt“, sagte Slimani. Erst als Myriam und Paul ihre Nounou zufällig auf der Straße sehen, fällt ihnen auf, wie wenig sie von Louise wissen (wollen). Zum ersten Mal versucht Myriam sich vorzustellen, „was Louise ist, wenn sie nicht bei ihnen ist“. Doch da ist es schon zu spät.