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In „Dämmer und Aufruhr“ erzählt Bodo Kirchhoff die Geschichte seines Missbrauchs

Dämmer und Aufruhr : Literatur kann sogar Leben retten

Man fragt sich mitunter, was einen Menschen in die Schriftstellerei treibt. Warum schreibt einer? Was muss da in einem Leben geschehen sein? Im Falle von Bodo Kirchhoff (70) bedarf es lediglich der Lektüre von rund 50 Seiten seines neuen Buches, um zu verstehen.

Mehr noch: Wer „Dämmer und Aufruhr“ liest (und zwar unbedingt auch die restlichen 430 Seiten!), der wird erkennen, dass das Schreiben von Büchern, zumal von Romanen, für Kirchhoff möglicherweise der einzige Weg war, um mit dem, was er in jungen Jahren erfahren und erlitten hat, klarzukommen. Literatur als Lebensretter!

Bis an die Grenze des Zumutbaren

Extrem schonungslos, manchmal bis an die Grenze der Zumutbarkeit, erzählt Kirchhoff die Geschichte jenes Missbrauchs, der ihm als zwölfjähriger Junge in einem Internat am Bodensee widerfahren ist. Der Kantor und Heimleiter, ein langhaariger Typ, der an Winnetou erinnert, hatte es von dem Tag an, als der junge Kirchhoff die Erziehungsanstalt betrat, auf ihn abgesehen. Schnell kommt es zu ersten Übergriffen. Kirchhoff, der sich einsam fühlt, lässt den Kantor nach Belieben schalten und walten. Bei einer gemeinsamen Autofahrt im Cabrio des Organisten biegt dieser plötzlich von der Straße in einen abgelegenen Seitenweg. Kaum ist der Motor verstummt, wendet sich der Ältere dem hilflosen Jungen auf dem Beifahrersitzt zu. „Er weiß wieder nicht, wie ihm geschieht, und weiß es inzwischen doch, er weiß, dass gleich die Schweinerei passiert. Aber der Kantor hat vorgesorgt, das eigene weiße Hemd hält er bereit, ein ganzes Stück davon für sie beide, und der Junge kann sich gehenlassen, so wie es, zwischen Küssen, von ihm erbeten wird.“

Doch es gibt noch mehr Drama in diesem Buch – zum Beispiel die ödipalen Episoden mit der Mutter. Kirchhoff erinnert sich an die gemeinsamen Urlaube, an die Mittagsstunden, die er meistens im Bett neben der Mutter verbringt. Hierbei, so erfahren wir, bleibt es nicht nur bei Rückenmassagen. Der Vater lässt im Übrigen nur sporadisch blicken im Urlaubsdomizil, schon früh wird in dem Buch deutlich, dass die Ehe zum Scheitern verurteilt ist. Nicht umsonst haben die Eltern – völlig überfordert mit sich selbst – ihren Sohn in ein Internat abgeschoben.

Besonders eindrucksvoll sind jene Passagen, in denen Kirchhoff beschreibt, wie sehr sich die Eltern aufreiben in dem Bemühen, die Idee von der intakten Familie am Leben zu halten. Doch nichts ist intakt, eine ständige Finanznot, unter der alle leiden, ist zusätzlicher Ballast. Dass die Eltern heile Welt spielen, mag man ihnen zumindest als Leser dieses Buches nicht verübeln, es geht ans Herz zu sehen, wie verzweifelt sie den Schein wahren wollen. Kirchhoffs Geschichte erinnert uns daran, wie sehr Kinder unter der Trennung der Eltern leiden können. Es mag Beispiele geben, in denen das nicht der Fall ist. Nicht jedes Scheidungskind landet beim Psychologen. Aber so zu tun, als ob die Trennung der Eltern spurlos an Kindern vorbeigehe, das ist mit Sicherheit nicht die Idee, die hinter diesem sehr intimen Buch steckt.

Auf der Höhe seines literarischen Schaffens: Bodo Kirchhoff (70).
Auf der Höhe seines literarischen Schaffens: Bodo Kirchhoff (70). Foto: dpa/Frank Rumpenhorst

Im Internat ist Kirchhoff ein Zweifelnder und Leidender, der sich in die Welt der Bücher flüchtet. In ihnen findet er Trost in seiner Einsamkeit. „Es war ein wildes Lesen, immer auf der Suche nach den Worten, die eine Bestätigung meines Fiebers waren, meine Schwäche stützten, die mir das Gefühl gaben, einem geheimen Kreis anzugehören“, heißt es an einer Stelle dieses Buches, das Kirchhoff einen „Roman der frühen Jahre“ nennt. Tatsächlich aber ist das Buch durch und durch autobiographisch. Ein bisschen beschleicht einen das Gefühl, dass Kirchhoff seine anderen Bücher erst schreiben musste, um zu diesem hier in der Lage zu sein. Man ahnt, dass „Dämmer und Aufruhr“ kein leichter Wurf war. Im Alter von 70 Jahren ist Kirchhoff ganz gewiss auf der Höhe seines Schaffens.

Viel ist über dieses Buch geschrieben worden, und meistens stand dabei das Thema Missbrauch im Fokus. Das ist verständlich, weil die Missbrauchsgeschichte Kirchhoffs tatsächlich den roten Faden bildet und das Thema an sich so bedeutend ist, dass man nicht umhin kommt, ihm die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Dieses Buch, das wahrscheinlich Kirchhoffs bestes ist, jedoch nur auf dieses Thema zu reduzieren, wäre allzu verkürzt. Es ist weit mehr als die Geschichte eines Missbrauchs. Es ist vor allem die packende Geschichte einer Schriftstellerwerdung.

Warum schreibt einer? Weil er muss. Weil er gar nicht anders kann. Selbst, wenn er es wollte.