Volker Kutscher über seinen neuen Rath-Roman : „Es ist jedes Mal eine richtige Zeitreise“
Interview Aachen/Köln Volker Kutscher ist mit seiner Roman-Reihe über den Berliner Kommissar Gereon Rath und dessen Partnerin Charlotte Ritter äußerst erfolgreich. Sie sind die Vorlage für die TV-Serie „Babylon Berlin“. Nun hat Kutscher den achten Band veröffentlicht. Er heißt „Olympia“ und spielt im Jahr 1936.
Zwei lange Jahre haben seine Fans warten müssen. Seit Anfang November ist das Buch nun in den Läden. Mit „Olympia“ hat Volker Kutscher den achten Band seiner Roman-Reihe um den Berliner Kriminalkommissar Gereon Rath und dessen Partnerin Charlotte „Charly“ Ritter vorgelegt. Wieder ist es ein spannender Kriminalfall – dieses Mal spielt das Geschehen im Jahr 1936, und es geht zunächst um einen mysteriösen Todesfall im Olympischen Dorf. Wieder ist es aber auch eine atmosphärisch dichte Darstellung des Alltags und des Terrors in den ersten Jahren der NS-Diktatur.
Kutscher (57) gehört längst zu den bekanntesten und erfolgreichsten Kriminalautoren Deutschlands. Die Gesamtauflage seiner Bücher geht inzwischen in die Millionen. Durch die groß vermarktete und international sehr erfolgreiche Fernseh-Serie „Babylon Berlin“, die auf seinen Romanen basiert, finden Kutschers Bücher inzwischen auch in anderen Ländern wie den USA immer mehr Beachtung. Unser Redakteur Joachim Zinsen sprach mit dem Kölner Autoren, der vor seiner Karriere als Schriftsteller Zeitungsredakteur war.
Herr Kutscher, warum sind Gereon Rath und seine Partnerin Charlotte „Charly“ Ritter eigentlich Kettenraucher?
Volker Kutscher: In den 30er Jahren war Rauchen einfach üblich – außer für Frauen. Für Charly ist es also ein Zeichen von Selbstbestimmung und Emanzipation.
Aber so heftig wie in ihrem neuen Roman „Olympia“ haben die beiden noch nie gequarzt.
Kutscher: Tatsächlich? Ich habe nicht mitgezählt. Möglicherweise liegt es an der fortschreitenden Nikotinsucht der beiden.
Oder vielleicht daran, dass die Spannung, unter der das Paar steht, im neuen Roman nochmals zunimmt? Beide spüren doch, dass sie bald eine Entscheidung treffen müssen, die ihr Leben komplett verändern wird.
Kutscher: Das kann durchaus sein. Bei mir haben sich übrigens tatsächlich bereits Leserinnen und Leser heftig darüber beschwert, dass in meinen Romanen so viel geraucht wird. Aber was soll ich machen? Es war damals einfach so!
Die detailgetreue Darstellung des Alltagslebens im Berlin der späten 20er und der 30er Jahre ist ein Markenzeichen aller ihrer Gereon-Rath-Bücher. Das gilt auch für ihren neuen Roman „Olympia“. Wie haben Sie das gemacht, Herr Kutscher?
Kutscher: Ich habe mir alles angeschaut und gelesen, was ich über das Jahr 1936 in die Finger bekommen konnte. Zu den Olympischen Spielen gibt es sehr viel Material – nicht nur Leni Riefenstahls Propagandafilm und die damals sehr populären Zigarettenbilder-Sammelalben. Wobei ich selbstverständlich immer im Hinterkopf hatte: Die Spiele 1936 waren eine gigantische Werbeveranstaltung der Nazis. Das ist auch den offiziellen Fotos anzusehen. Sie wirken bis heute positiv und gaukeln das Bild von gelungenen Spielen in einer heilen Welt vor. Deshalb war für mich der Blick hinter die Fassade wichtig. Der Historiker Emanuel Hübner hat Privatfotos von den Spielen 1936 gesammelt und in einem Bildband veröffentlicht, die haben mir sehr geholfen. Hübner hat auch ein äußerst informatives Buch über das Olympische Dorf geschrieben und mir im persönlichen Gespräch Details verraten, die nicht in seinem Buch stehen. Ansonsten bin ich so vorgegangen wie bei der Recherche zu all meinen Romanen. Um ein Gefühl für das Jahr und dessen Stimmung zu bekommen, schmökere ich in den damaligen Tageszeitungen – lese Artikel, Werbeseiten und Kleinanzeigen. Das ist jedes Mal eine richtige Zeitreise.
Wie würden Sie die Stimmung in Berlin zur Zeit der Spiele beschreiben?
Kutscher: Das Propagandaspektakel funktionierte, die ganze Stadt war im Olympia-Fieber, die Leute haben sogar ihre Autos mit Wimpeln geschmückt. Das erinnerte mich ein wenig an den Sommer 2006, an die Fußball-Weltmeisterschaft 70 Jahre später – auch wenn ich die mit Berlin 1936 natürlich nicht in einen Topf werfen möchte.
Sind Sie bei der Recherche zu „Olympia“ auf historische Details gestoßen, die Ihnen bisher unbekannt waren?
Kutscher: So etwas passiert bei jedem Roman. Von Berlin 1936 kannte ich die Legende, dass Hitler dem großen Jesse Owens nach dessen Sieg über 100 Meter den Handschlag verweigert habe. Doch das stimmt nicht, den Eklat gab es bereits am Abend zuvor nach der Siegerehrung im Hochsprung. Es war der erste Wettkampftag, und zunächst hatten nur weiße Athleten Medaillen gewonnen, die Hitler allesamt in seiner Loge empfing. Doch als die Hochspringer geehrt wurden und zwei Afroamerikaner auf dem Treppchen standen, verließ Hitler das Stadion. Daraufhin haben ihm Vertreter des Internationalen Olympischen Komitees erklärt, dass er entweder alle Medaillengewinner empfangen solle, unabhängig von ihrer Hautfarbe, oder aber gar keinen. Hitler hat daraufhin niemanden mehr in seine Loge geholt – also auch nicht den großen Star der Spiele, Jesse Owens. Diese Geschichte habe ich in meinem Roman aufgegriffen.
Haben Sie beim Recherchieren und Schreiben auch für sich persönlich neue Antworten auf die Fragen gefunden: Warum standen in den ersten Jahren der NS-Diktatur die meisten Deutschen weitgehend unkritisch hinter den braunen Machthabern?
Kutscher: Solche Antworten lassen sich eben nicht explizit geben, deswegen schreibe ich ja meine Romane. Leser sollen der Antwort auf die Frage, wie es zur NS-Diktatur kommen konnte, mithilfe der Empathie näherkommen, durch das Mitfühlen und Miterleben der Zeitumstände aus der Perspektive meiner Figuren. Beim Schreiben versuche ich, mich in die Menschen des Jahres 1936 hineinzuversetzen und das heutige Wissen um die Katastrophe der NS-Herrschaft auszublenden. Für viele, die damals zur oft beschworenen „Volksgemeinschaft“ gehörten – und gehören durften! –, waren die Jahre nach der Machtübergabe eine Art Wohlfühldiktatur. Dass andere, allen voran Juden und politische Gegner, ausgegrenzt und terrorisiert wurden, ist einfach akzeptiert worden. Man machte die Augen zu und schaute weg.
Welcher Erkenntnisgewinn ergibt sich daraus für die heutige Zeit?
Kutscher: Vielleicht, dass die Demokratie ein fragiles Gebilde ist, für das man kämpfen muss. Schon Gleichgültigkeit kann sie gefährden. Und dass es nie beim Ausgrenzen bleibt: Auf die Diskriminierung der Juden folgte in letzter Konsequenz ihre Ermordung.
„Olympia“ war der zweite Gereon-Rath-Roman, den sie parallel zur Ausstrahlung der Fernsehserie „Babylon Berlin“ geschrieben haben. Wie gefällt ihnen die bisherige Verfilmung ihrer Bücher?
Kutscher: Ich freue mich grundsätzlich über jede Adaption meiner Romane. Es gibt ja nicht nur die TV-Serie, es gibt auch einen Comic, es gibt Hörspiele und sogar ein Theaterstück. Unterschiedliche Medien erzählen auch unterschiedlich. Die erste Doppelstaffel von „Babylon Berlin“ war durchaus gelungen, auch wenn es einige Abweichungen von meinem Roman „Der nasse Fisch“ gab.
Die dritte Staffel von „Babylon Berlin“, also die vor wenigen Wochen ausgestrahlte Verfilmung von „Der stumme Tod“, entfernte sich hingegen sehr weit von der Romanvorlage.
Kutscher: Wichtig ist, dass die Adaption dem Geist der Vorlage treu bleibt. Sind die Abweichungen in dieser Hinsicht zu groß, sage ich das den Drehbuchautoren und Regisseuren, diskutiere das aber nicht in der Öffentlichkeit.
Gerade Charlotte „Charly“ Ritter ist im Film deutlich anders angelegt als in ihren Büchern.
Kutscher: Dass Charlotte in der TV-Serie aus dem proletarischen Milieu kommt, das funktioniert. In den Romanen wie in der Serie ist sie eine Frau, die die neuen Freiheiten der Republik nutzt. Sie will zur Polizei, sie will nach oben. Sie ist eine starke Persönlichkeit, zugleich aber auch sehr verletzlich. Diese Dualität verkörpert die Schauspielerin Liv Lisa Fries perfekt.
Die Suggestivkraft von Filmbildern ist enorm. Hatte die Bilderwelt von „Babylon Berlin“ beim Schreiben Einfluss auf die Bilderwelt in ihrem Kopf?
Kutscher: Diese Befürchtung hatte ich zunächst tatsächlich. Aber die Ideenwelt in meinem Kopf existiert bereits seit 17 Jahren und ist sehr stabil. In dieser Zeit haben die Romanfiguren klare Konturen bekommen. Nein, ich kann meine Geschichte völlig unabhängig weitererzählen. Vielleicht hilft mir dabei, dass die Welt der Romane doch eine andere ist als die der TV-Serie.
Ursprünglich wollten Sie ihre Romanreihe mit dem achten Buch im Jahr 1936 enden lassen. Ihre Idee war, dass Rath spätestens in diesem Jahr merken muss, dass jeder, der bei der Polizei arbeitet oder wie in seinem Fall sogar mit dem Sicherheitsdienst kooperiert, sich an Terror und Unterdrückung mitschuldig macht. In „Olympia“ kommt Rath endlich zu dieser Erkenntnis. Ist jetzt Schluss?
Kutscher: Nein. Ich habe mich schon vor längerer Zeit festgelegt, noch zwei weitere Romane zu schreiben und die Geschichte bis zum Jahr 1938 weiterzuerzählen.
Wieso dieser Sinneswandel?
Kutscher: Mit der Reihe wollte ich das Abgleiten der Weimarer Demokratie in die Diktatur beschreiben – vier Romane vor 1933, vier danach. Nach diesem groben Konzept wäre 1936 Schluss gewesen. Aber ich habe schnell gemerkt, dass ich bis 1938 weiterschreiben muss, weil sich in der Pogromnacht zeigt, worauf es schlussendlich hinausläuft, wenn man Menschen ausgrenzt und diskriminiert: auf Gewalt und Mord.
Der Leser von „Olympia“ steht am Ende des Buches vor einem Rätsel. Die letzten Seiten von Olympia lassen sich sowohl als Abschluss der Roman-Reihe, als auch als toller Cliffhanger lesen.
Kutscher: Zu meinem Romanende sage ich natürlich nichts. Ich will nicht spoilern.
Wissen Sie denn schon, wie es für Gereon Rath und Charlotte Ritter weitergeht?
Kutscher: Das wird sich beim Schreiben zeigen. Fest steht nur, dass der neunte Roman in zwei Jahren erscheinen soll.
Geben Sie es zu: Sie können sich einfach nicht von Gereon und Charly trennen!
Kutscher: Oh doch! Ich bin froh, wenn ich auch mal etwas anderes schreiben kann. Aber erst einmal gilt es, das Rath-Projekt zu beenden. Wie gesagt: Zwei Romane fehlen noch. Dann habe ich mich über zwanzig Jahre hinweg mit Gereon und Charly beschäftigt, das muss reichen.