Neuer Roman von Zoë Jenny: „Der verschwundene Mond“ : Ein Held mit Sympathiebonus
Als Leiter des Astronomischen Instituts von Wien dreht sich Martys Leben um die Beschäftigung mit den Weiten des Universums. Die wirkliche Welt schiebt er gerne beiseite.
„Was Menschen betraf, war Marty nie sonderlich neugierig gewesen. Jeder im All vagabundierende Planet war faszinierender.“ Zielstrebig ist er seinem Interesse für Himmelskörper gefolgt, hat Karriere gemacht, bis hin zur Leitung des Astronomischen Instituts von Wien. „Du lebst in einer Blase“, wirft ihm Stella vor, „Du bist von lauter Nerds umgeben.“
In „Der verschwundene Mond“ erzählt Zoë Jenny, was passiert, als diese Blase platzt. Auslöser dafür ist die zufällige Begegnung mit dem Psychoanalytiker und Hobby-Astronomen Gerhard Steindorfer. Für den der Blick ins Universum nicht zwanghaft, sondern erholsam ist, weil er es „die ganze Zeit mit Problemen von Menschen zu tun hat.“ Und der es erstaunlich findet, „dass wir mehr über weit entlegene Planeten wissen als über unser eigenes Bewusstsein.“
Plötzlich brechen Erinnerungen über Marty herein. An Rita, mit der er erste sexuelle Erfahrungen machte und die ihn verließ. An das Schweigen der Mutter, die über seinen Vater nur erzählte, er sei an Krebs gestorben, als Marty zwei Jahre alt war. Den neuen Freund der Mutter, der Sanitäranlagen verkaufte – und eines Tages spurlos verschwand.
Zu diesen alten Verlusten gesellen sich neue. Der Roman schafft mit das Schwierigste, was ein Buch zu schaffen vermag: Antipathie ins Gegenteil zu verkehren. Helden durchgängig mit einem Sympathiebonus auszustatten, ist dagegen ein literarischer Spaziergang.
Gut leiden kann man Marty anfangs nicht. Aufgrund seines Desinteresses an der Psyche seiner Mitmenschen wirkt er erschreckend gedanken- und gefühllos. Erst als sein Panzer im Erinnern aufbricht und er zu seiner Mutter fährt, ändert sich das.
Marty empfindet große Traurigkeit: „Er sah Mutters Hand neben sich, den Handrücken übersät mit Altersflecken, er sah die hervorstehenden bläulichen Adern. Er nahm ihre Hand in die seine und drückte sie leicht. Sie nickte, ohne etwas zu sagen, und er wusste: Für ihn war die Zeit gekommen zu gehen.“ Sein Ziel: Bali, wo Stella und Rosa gerade Marlene besuchen.
Jenny siedelt ihre fein austarierte Geschichte an zwischen den Polen Leben und Tod. Da sind die, für die das Leben gerade beginnt – Marty, der Jüngere und seine Tochter, als Neugeborene und als neu geborener 17-Jähriger. Und die, die sich dessen Ende annähern.
Martys Mutter und Erik, der 90-jährige „ruhige Witwer“, der im Anbau der Villa wohnt, die Martys Familie gemietet hat. „Unser Nachbar ist ein alter Nazi“, sagt Stella über ihn. „Er ist einsam und sammelt Kuscheltiere“. Um dann den Bären, den er ihr geschenkt hat, in den Abfall zu stopfen.
Für Marty geht von Erik etwas Bedrohliches aus: „Die wässrig blauen Augen wirkten wie verwischt, aber sie wollten zu ihm, die Grenze überschreiten und sich ausweinen.“ Eriks nach Mitleid heischende Alterseinsamkeit macht ihm Angst. Wie ein Spiegel, der zeigt, was ihm später widerfahren könnte. Bali eröffnet andere, auch ungeahnte, Möglichkeiten. Der Ausgang bleibt ungewiss.