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„Als die Welt stehen blieb“: Die Realität überholt die Fiktion

„Als die Welt stehen blieb“ : Die Realität überholt die Fiktion

Vor einer Pandemie sind natürlich auch Bestseller-Autorinnen nicht gefeit. Die Norwegerin Maja Lunde verarbeitet die Corona-Krise in ihrem neuen Buch „Als die Welt stehen blieb“.

Eigentlich sollte ihr nächster Roman nach „Die Geschichte der Bienen“ und den beiden Folgewerken von einer Krankheit und einer Epidemie im Jahr 2110 handeln. Doch dann überholte die Realität die Fiktion – und die Coronavirus-Pandemie hat nicht nur das Leben von Milliarden anderer Menschen vollends auf den Kopf gestellt, sondern auch das von Schriftstellerin Maja Lunde (45).

Die Norwegerin hat die verstörenden Anfangstage der Corona-Krise nun in einem kurzweiligen Buch verarbeitet, in dem sich viele Leser selbst wiederfinden werden – nämlich zwischen Homeoffice und Homeschooling, zwischen Kurzarbeit und Krisenmanagement, zwischen Verzweiflung und Frustration. Und eben in einer Lage, die so irreal anmutet, dass sie doch eigentlich aus einer Erzählung stammen müsste.

„Jetzt bin ich machtlos“

„Ich werde das Gefühl nicht los, in eines meiner eigenen Bücher geraten zu sein“, schreibt Lunde in „Als die Welt stehen blieb“. Der einzige Unterschied für sie sei, dass sie in ihren Büchern alle Macht über das hat, was dort geschieht. „Jetzt bin ich machtlos.“

Diese Machtlosigkeit krempelt Lundes Leben grundsätzlich um, hält sie aber nicht vom Schreiben ab. Nachdem sie sich in der millionenfach verkauften „Geschichte der Bienen“ und den Nachfolgern „Die Geschichte des Wassers“ und „Die Letzten ihrer Art“ mit Umwelt- und Klimaproblemen befasst hat, ist dabei nun eine Art Corona-Tagebuch aus Norwegen herausgekommen.

Dort hatte die Pandemie zwar bei Weitem nicht so dramatische Folgen wie etwa in Italien oder Spanien. Dennoch hat das Virus auch im hohen Norden das öffentliche Leben in seinen allumfassenden Bann gezogen: Schulen wurden ebenso vorübergehend geschlossen wie Geschäfte, Lokale und Grenzen, und auch in Norwegen ist ein halbes Jahr nach Pandemiebeginn nichts mehr wie vor Corona.

Ihren Anfang nehmen Lundes Ausführungen im März: Mit strikten und recht frühzeitigen Maßnahmen versucht Norwegen, das Virus unter Kontrolle zu bekommen. „Die Ministerpräsidentin“, wie Lunde sie nennt, kündigt am 12. März „die einschneidendsten und härtesten Maßnahmen“ an, die ihr Land jemals in Friedenszeiten gesehen habe.

Man glaubt an eine fiktive Geschichte, die Lunde da erzählt. Dann realisiert man: Moment, das ist wirklich so passiert! Oder wie die Autorin es ausdrückt: „Es ist zu viel, es geschieht tatsächlich und ist doch nicht zu glauben.“ Bei Lunde fließen Tränen – bei Weitem nicht das einzige Mal in dieser Zeit.

Insgesamt nimmt die Norwegerin ihre Leser mit zurück in die Tage vom 11. bis zum 29. März, die Zeit, als die Welt eben stehen blieb. Teils mutet das Werk wie ein 224 Seiten langer Bewusstseinsstrom an, teils spiegelt er sehr konkret wider, was Menschen in Norwegen, Deutschland und vielen weiteren Ländern in ebendiesen Tagen und darüber hinaus durchgemacht haben: die Ratlosigkeit.

Die Angst um Mitmenschen, der Frust wegen der Beschränkungen des Alltags. Das Verlangen nach Umarmungen und das damit einhergehende schlechte Gewissen, wenn man Älteren und anderen Risikogruppen dann doch zu nahe gekommen ist. Die Erschöpfung nach Tagen des Homeschoolings und Kinder, die Sätze sagen wie: „Ich vermisse die Schule.“ Menschen, die Würstchen und Klopapier hamstern. All das.

„Unser Haus ist ein Boot“

Und natürlich die Sucht nach dem Smartphone und dem damitverbundenen Informationsfluss, nur um dann Hiobsbotschaften zu lesen, etwa diejenigen aus dem von Lunde so sehr geliebten Italien. „In den letzten vierundzwanzig Stunden sind in Italien 793 Menschen gestorben. Kolonnen von Militärfahrzeugen pendeln vom Krankenhaus zum Krematorium in Bergamo.“ Rückblickend bekommt man bei diesen Zeilen eine Gänsehaut, als würde man einen Psychothriller lesen.

„Ich wünschte, es wäre ein Buch, das ich geschrieben habe, ich wünschte, es wäre nur ein Buch“, resümiert Lunde. Und: „Ich möchte die Fiktion zurück.“

Gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen erkennt Lunde letztlich aber auch etwas ganz anderes: den unschätzbaren Wert von Familienzusammenhalt in einer Phase der Extreme. „Es ist, als wären wir auf einer Erdumsegelung. Wir sind zu fünft, bei allen Mahlzeiten, jeden Morgen und jeden Abend“, schreibt Lunde über sich und ihre Familie. Der Rest der Welt sei nur über das Internet erreichbar. „Und unser Haus ist ein Boot. Oder eine Insel.“