1. Kultur
  2. Buch

Buch „Schattenkinder“: Der Bischof von Lüttich und die jüdischen Kinder

Buch „Schattenkinder“ : Der Bischof von Lüttich und die jüdischen Kinder

Marcel Bauer erzählt in seinem Buch „Schattenkinder“, wie der Lütticher Bischof Louis-Joseph Kerkhofs und seine Helfer in der Nazizeit Hunderte Verfolgte retteten.

Es liest sich wie in einer Agentengeschichte: Der Bischof erhält die Nachricht „Es sind wieder Kartoffeln da!“ Und prompt öffnet sich wenig später die Pforte des Bischofshauses und die Schutzsuchenden können eintreten. Es sind in Belgien lebende Juden, die sich vor Verfolgung in Sicherheit bringen wollen. Wenig später fahren sie mit dem Bischof in dessen noch nicht beschlagnahmter Limousine in ihr Versteck im Pilgerort Banneux in den Ardennen.

Der Bischof von Lüttich, Louis-Joseph Kerkhofs, hatte schon vor dem Krieg vor dem Heidentum der Nationalsozialisten gewarnt. 1942 beauftragte er seinen juristischen Berater, den Notar Max-Albert Van den Berg, mit der Organisation und Leitung eines Netzwerkes zur Rettung jüdischer Kinder.

Marcel Bauer beschreibt in seinem Buch „Schattenkinder – eine Kindheit im Krieg“ beispielhaft das ausgeklügelte System, auf dessen Fundament Zehntausende jüdische Kinder im von den Nationalsozialisten besetzten Belgien gerettet werden konnten.

Marcel Bauer: „Schatten­kinder“,  420 Seiten, 13,50 Euro, Rhein-Mosel-­Verlag
Marcel Bauer: „Schatten­kinder“, 420 Seiten, 13,50 Euro, Rhein-Mosel-­Verlag Foto: Rhein-Mosel-Verlag

Eine kleine Episode eines großen Dramas. Bauer, 1946 in Eupen geboren, erhielt seine journalistische Ausbildung bei der Aachener Volkszeitung. Viele Jahre lang war er Pressesprecher des Hilfswerks Missio in Aachen. Später arbeitet er als freier Journalist und Filmemacher. Dass diese Geschichte, für die der Autor fünf Jahre lang recherchiert hat, in Belgien spielt, hat vielerlei Gründe: In den 1930er Jahren gab es im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung im Königreich viele Menschen jüdischen Glaubens. Rund 116.000 Juden brachten die Nationalsozialisten dazu, von Belgien als dem „völkischen Misthaufen Europas“ zu sprechen.

Vielen Juden in Osteuropa galt Belgien als gelobtes Land und damit als Fluchtziel vor dem grassierenden Antisemitismus. Umgekehrt hatten die deutschen Besatzer 1941 in Brüssel ein Büro der Sicherheitspolizei eingerichtet, die die Judenpolitik nach deutschem Muster durchführen sollte.

Bischof Louis-Joseph Kerkhofs war maßgeblich an der Rettung der jüdischen Kinder beteiligt.
Bischof Louis-Joseph Kerkhofs war maßgeblich an der Rettung der jüdischen Kinder beteiligt. Foto: Rhein-Mosel-Verlag

Bauer verdichtet die komplexen Ereignisse auf das Schicksal einer jüdischen Familie aus Polen: die Familie Rozenberg, die mit ihren beiden Söhnen Mendel und Joshua aus dem polnischen Lodz über Bremen, Aachen und die Eifel nach Belgien aufbricht. Die Olympischen Spiele 1936 nutzen sie mit Touristenvisa für die Durchreise. Der Vater ist Metzger. Die Flucht ist beschwerlich und abenteuerlich.

Und manches, was Bauer berichtet, mutet aktuell vertraut an: Die Familie hatte den Tipp bekommen, sich in Hellental an „Eifeljuden“ zu wenden, die den Weg über die Grenze weisen könnten. „Schleuser“ würde man das heute nennen.

Über Lüttich gelangt die Familie in den Ort Seraing südlich der Großstadt an der Maas im Kohlerevier. Der Vater kann eine frühere Pferdemetzgerei übernehmen. Eigentlich hätte die Familie ein beschauliches Leben führen können. Aber 1942 wurden die Razzien gegen die jüdische Bevölkerung, die sich zunächst auf die großen Städte konzentriert hatten, auch auf die Landgemeinden ausgedehnt. Die Bedrohung wuchs spürbar, der Vater wurde ins Arbeitslager an die Nordsee verschickt, der Familie die Wohnung ausgeräumt. In ihrer Not wandte sich die Mutter an den katholischen Rechtsanwalt Van den Berg. Denn in der jüdischen Gemeinde wusste man, wo es Hilfe gab.

Notar Max-Albert Van den Berg hatte gemeinsam mit Bischof Louis-Joseph Kerkhofs ein Netzwerk zur Rettung jüdischer Kinder organisiert.
Notar Max-Albert Van den Berg hatte gemeinsam mit Bischof Louis-Joseph Kerkhofs ein Netzwerk zur Rettung jüdischer Kinder organisiert. Foto: Rhein-Mosel-Verlag

Das Verstecken begann. Die Kinder wurden – wie viele vor und nach ihnen – verschlüsselt registriert, vor allem bekamen sie neue Namen. Aus Joshua Rozenberg wurde Pierre, aus seinem älteren Bruder Mendel Jean-Marie Thonnar. Die Biografie sollten sie sich selbst ausdenken. Es war den Kindern verboten, untereinander über ihre Vorgeschichte zu sprechen. Auch Erwachsene wurden „kreativ“ versteckt, der belgische Oberrabbiner Solomon etwa wurde zum bischöflichen Hauskaplan.

Überleben in der Ferienkolonie

Rechtsanwalt Van den Berg kannte sich aus. Immerhin hatte er Zugriff auf kirchliche Einrichtungen wie Internate, Klöster, Ferienheime und Hospitäler. Insgesamt, auch außer­halb seines Einflussbereiches, gab es in Belgien über 220 private und kirchliche Einrichtungen, die Kinder aufnahmen und auf diese Weise vor dem Holocaust retteten. Joshua und Mendel Rozenberg überlebten mit etwa 20 anderen Kindern unter falschem Namen in der Ferienkolonie „À l’air frais“ (An der frischen Luft) in Stoumont.

 Eines der geretteten Kinder war Joshua Rozenberg (hier rechts im Bild mit seinem Freund Bouboule).
Eines der geretteten Kinder war Joshua Rozenberg (hier rechts im Bild mit seinem Freund Bouboule). Foto: Rhein-Mosel-Verlag

Bei der Unterbringung und der Versorgung der Kinder halfen den Rettern zwei Umstände: Die belgische Bevölkerung stand den deutschen Besatzern äußerst kritisch gegenüber und unterstützte alles, was diesen das Leben schwer machte. Zudem: Wenn die Menschen schon nicht aktiv etwa durch Lebensmittelspenden helfen konnten, dann tolerierten sie die neuen Gäste in ihren Dörfern.

Bischof Kerkhofs und seine getreuen Helfer sahen in den Juden – dem Zweiten Vatikanischen Konzil weit voraus – die Glaubensbrüder, die sich auf Abraham zurückführten. Von daher empfanden sie es als Verpflichtung, diesen „geistlichen Verwandten“ in der Not beizustehen.

Dass dies nicht völlig selbstlos geschah, konnte man daran ablesen, dass zu Ostern 1944 die jüdischen Kinder nach ausführlichem Katechismusunterricht getauft wurden und die erste heilige Kommunion empfingen. Zu ihrer Firmung kam Bischof Kerkhofs persönlich nach Stoumont. Einige der Kinder wurden vom Ortspfarrer, dem Abbé Marcel Stenne, der sich durch eine Mischung aus Güte und Strenge Respekt erwarb, zu Messdienern berufen. Übrigens, so im Buch, nicht ohne gelegentlich in der Sakristei in unbeobachteten Momenten am Messwein zu nippen.

Teilweise liest sich das Buch wie die Beschreibung einer Idylle, in der Pfadfinder der Sippe „Känguru“ die Natur erforschen, sich mit Lehrern auseinandersetzen oder über das Essen meckern. Es ist eine Art dokumentarischer Roman entstanden mit einer Fülle von Informationen, manchmal etwas detailversessen.

Die Ferienkolonie „À l’air frais“ (An der frischen Luft) im Maison Saint-Edouard in Stoumont.
Die Ferienkolonie „À l’air frais“ (An der frischen Luft) im Maison Saint-Edouard in Stoumont. Foto: Rhein-Mosel-Verlag

Das Entsetzliche des Krieges wird erst im letzten Drittel des Buches nachvollziehbar, als Pierre an Weihnachten 1944 in das Grauen der Ardennenschlacht gerät. Der Roman entwickelt eine gewisse Sogwirkung, weil der Leser die einzelnen Personen mit ihren Stärken und Schwächen kennenlernt und neugierig ist, wie sich ihr Schicksal weiterentwickelt. Gleichzeitig gib es einen guten Einblick in die Situation Belgiens während des Krieges, dem Treiben von SS und Gestapo sowie den vielfältigen Versuchen, den Besatzern das Leben so schwer wie möglich zu machen.

Übrigens wurden im Auto des Bischofs nicht nur die Kinder ins Pilgerheim gebracht, sondern im Kofferraum auch der Sack mit den Kartoffeln. Nicht mal gelogen wurde bei der Aktion.