Ein Besuch bei Erzähler Uwe Timm : Das Leben in den Zeiten von Corona
München „Das, was wir gerade erleben, ist die plötzliche Erkenntnis, dass wir offensichtlich nicht alles beherrschen“: Am 30. März feiert der große deutsche Erzähler Uwe Timm seinen 80. Geburtstag. Ein Besuch in München.
Es ist ein sonniger Morgen in der bayrischen Landeshauptstadt, wenn man nicht wüsste, was man weiß, könnte man sich nach all dem Dauerregen an den wärmenden Strahlen erfreuen. „Corona-Hammer“ titelt eine Boulevardzeitung, nur noch ein Exemplar ist in dem Verkaufskasten auf dem Bürgersteig übriggeblieben. Das Geschäft mit der Krise – es blüht.
Eine Reihe von Surfern in schwarzen Neoprenanzügen scheint das alles herzlich wenig zu interessieren. Sie reiten auf ihren Brettern über die berühmte „Eisbach-Welle“, eine wirbelig-schäumende Erhebung im Eisbach, der als Nebenzweig der Isar durch den Englischen Garten fließt. „Sonst gucken hier deutlich mehr zu“, sagt eine junge Frau. Was immer das heißen mag.
Kein Händeschütteln. Bei aller Liebe, aber Shakehands muss nun wirklich nicht sein. Dabei würde Uwe Timm den Gast (wie sich das gehört) viel lieber mit einem Handschlag willkommen heißen. Was auch für seine Ehefrau Dagmar Ploetz gilt, die es sich nicht nehmen lässt, zur Begrüßung kurz im Flur zu erscheinen. Seit Ewigkeiten lebt das Ehepaar hier in dieser Münchener Wohnung. Sie, die namhafte Übersetzerin, die Autoren wie Gabriel Garcia Márquez und Rafael Chirbes aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt.
Und er, der bedeutende und vielgelesene Schriftsteller, der Bücher wie „Die Entdeckung der Currywurst“ schrieb und am 30. März seinen 80. Geburtstag feiert. „Es beginnt langsam die Zeit der Ersatzteile“, sagt Timm. Gerade habe er eine Operation des grauen Stars hinter sich, nach der er nun deutlich besser sehe. „Mir geht es wirklich gut.“
Hilflose Gesellschaft
Das Coronavirus und die Folgen. Eine Festveranstaltung anlässlich des Geburtstages im Literaturhaus München musste bereits abgesagt werden. Timm trägt es mit Fassung. „Das ist sehr schade, aber absolut richtig.“ Er selbst geht gelassen um mit dem Thema; beschäftigen tut es ihn allemal. „Das, was wir gerade erleben, ist die plötzliche Erkenntnis, dass wir offensichtlich nicht alles beherrschen. Im Gegenteil, es zeigt sich, wie sehr die Natur reinschlägt und wie hilflos eine hoch technisierte und wissenschaftlich ausgerichtete Gesellschaft ist.“ Die Maßnahmen der Regierung empfindet Timm als angemessen, man müsse jetzt Vorsicht walten lassen. Seine Tochter, eine Internistin, habe ihm geraten, auf Interviews zu verzichten. Wie schön, dass der Vater nicht immer auf die Tochter hört.
Es sind aufregende Zeiten. Auch politisch. Und einen politischen Schriftsteller wie Uwe Timm, zumal einen Linken, der die Verarbeitung der NS-Vergangenheit unter anderem in der Erzählung „Am Beispiel meines Bruders“ (2003) eindrucksvoll zum Thema gemacht hat, kann der Rechtsruck in diesem Land nicht kalt lassen. „Ich dachte, das wäre alles erledigt, dachte, dass diese große Katastrophe ein für alle Mal abgearbeitet sei. Doch das Gegenteil ist der Fall. Es kommt alles wieder, teilweise sogar unter jungen Menschen – der Rassismus, der Nationalismus, der Antisemitismus. Das ist nur schwer erklärbar.“
Vielleicht habe die Linke, sagt Timm, das Internationale, das Staatenverbindende zu stark betont. Zwar halte er diesen Ansatz grundsätzlich immer noch für richtig, doch es gebe ein nicht zu unterschätzendes Verlangen nach Heimat. „Damit ist nicht die verstaubte Trachtenveranstaltung gemeint, sondern das Zusammengehörigkeitsgefühl in Gemeinden, das progressive Elemente enthält, die herausgearbeitet werden müssen. Da wird niemand unterdrückt und sozial erniedrigt ist. Da sind Menschen für einander da.“ Gerade in Krisenseiten. Zeiten wie diesen.
Alles kommt wieder
Einigermaßen beruhigt hat Timm die klare Haltung der Parteien nach dem jüngsten Debakel in Thüringen. „Das war alles ein bisschen wackelig, doch letztlich hat sich gezeigt, dass es im Kampf gegen die AfD Einigkeit gibt.“ Für Timm hat das Erstarken der Alternative für Deutschland nicht nur mit dem Thema Fremdenfeindlichkeit zu tun; auch augenscheinliche Ungerechtigkeiten hätten den Aufschwung der Partei befördert. „13 Millionen Menschen leben an oder unterhalb der Armutsgrenze. Ich sehe es doch, wenn ich im Englischen Garten spazieren gehe und den Flaschensammlern begegne. Diejenigen, denen es gut geht, die lassen ihre Flaschen für die stehen, die sie wieder einsammeln. Diese Ungleichheit ist eine empörende Ungerechtigkeit.“
Doch Timm, ein Freund von Utopien, glaubt fest daran, dass Veränderungen zum Guten möglich sind. „Irgendwann wird vielleicht eine Rentnerin vor einem Sozialamt sitzen und mit ihrem stillen Protest eine Welle lostreten, so wie das Greta Thunberg beim Thema Klima gelungen ist.“ Das Problem sei bloß, dass die Rentner ihre Armut versteckten. „Würden sie zu Hundertausenden auf die Straße gehen, dann würde ein Umdenken stattfinden. Die 13 Millionen müssen sichtbar werden, ihr Protest muss auf die Straße getragen werden.“
Der Freund Benno Ohnesorg
Als Timm das sagt, muss man augenblicklich an seine Erzählung „Der Freund und der Fremde“ aus dem Jahr 2005 denken, in der er über seine Freundschaft zu Benno Ohnesorg geschrieben hat, der am 2. Juni 1967 in West-Berlin als Teilnehmer der Demonstration gegen den Staatsbesuch des persischen Kaisers Mohammad Reza Pahlavi erschossen worden war. Ein gewaltsamer Tod, der schließlich zur Radikalisierung der Studentenbewegung führte.
Doch Ohnesorg war nicht nur ein Freund im politischen Geiste, sondern der Mensch, mit dem Timm die Leidenschaft, ja das Erfordernis des Schreibens entdeckte. In dem Buch heißt es: „Schreiben nicht als Alternative, nicht weil man es gern möchte, aber doch auch etwas anderes tun könnte, sondern weil man keine Wahl hat, dieses Eingeständnis, das von ihm nicht nur mit Verstehen beantwortet wurde, sondern mit brüderlichem Gleichsinn und Vertrauen.“
Mit Wohlwollen blickt der 79-Jährige auf die deutsche Gegenwartsliteratur. „Wir sind breit aufgestellt, das hat zum Glück mit den selbstreferentiellen Texten der 80er Jahre nichts mehr zu tun. Es gibt tolle Bücher von tollen Autorinnen und Autoren“, sagt er und nennt Namen: Ingo Schulze, Eva Menasse, Daniel Kehlmann, Lutz Seiler. Uwe Timm ist immer auch ein begeisterter Vielleser gewesen. Manche Autoren seien der Ansicht, dass nur die eigenen Texte gut genug seien. „Das ist ganz schön von oben herab.“
In dem gerade erschienenen Buch „Am Beispiel eines Autors“, in dem Wegbegleiterinnen und -begleiter, Kolleginnen und Kollegen Uwe Timm mit eigenen, sehr einfallsreichen und feinen Texten zum Geburtstag gratulieren, hat die Schriftstellerin Eva Menasse die zurückhaltende Art des demnächst 80-Jährigen thematisiert. „Dieser ruhige, zurückhaltende Mensch hat all das gemacht? Er hat ein so sinnliches und gleichzeitig geistig so durchdringendes Werk geschaffen?“ Man muss kein Flegel oder Provokateur sein, um sich mit seinen Büchern Gehör zu verschaffen. Oder wie es Menasse sagt: „Die Plaudertaschen und Alleinunterhalter sind nicht immer die besten Schriftsteller, sie wirken nur so.“
Timm freut sich über das Lob der Kollegin, und er hat kein Problem damit, dass sie seine sympathische Art besonders hervorhebt. Uwe Timm, der Gutmensch? „Ach, ich weiß nicht, ob ich ein guter Mensch bin. Ich würde eher sagen, dass ich anderen Menschen gerne zuhöre. Ich habe sehr wohl meine Standpunkte, streitsüchtig bin ich aber sicherlich nicht. Streiten ist wichtig, ich bin aber der Meinung, dass das immer in einem fairen Rahmen geschehen sollte.“
Anders als ein Günter Grass („Der ist zu allem gefragt worden und hat auch zu allem seine Antworten gegeben“) suche er außerhalb seiner Literatur nicht von sich aus die Öffentlichkeit, um politische Statements abzugeben. „Man kann mich aber fragen“, sagt Timm. Was wir gerne tun und den Namen Donald Trump ins Spiel bringen, der im Zuge von Corona eine Einreiseverbot in die USA verhängte und dies gleichzeitig für eine harsche Generalkritik an Europa nutzte. „Da fehlen mir die Worte, das ist natürlich alles völlig abstrus.“ Mehr gibt es dazu dann doch nicht zu sagen.
Als sein Smartphone klingelt, greift er in die Innentasche seines Jacketts und drückt den Anrufer weg. „Das muss jetzt wirklich nicht sein.“ Wenn er Menschen treffe, dann höre er einfach gerne zu und merke sich, was sie erzählen. „Gerade im Kulturbetrieb, in dem die meisten nur von sich selbst reden, ist das nicht so selbstverständlich. Ich habe nie die Vorstellung des genial-ruppigen Schriftstellers gepflegt.“ Was er gar nicht möge, sei jene Coolness, die vor allem die Jüngeren heutzutage gerne zur Schau trügen. „Man gibt sich selbst eine Höhe und hält den anderen damit auf Distanz.“ Er hoffe, sagt Timm, dass er gesund und ihm noch genug Zeit bleibe, Bücher zu schreiben. Ideen gibt es genug, Timm ist noch nicht ausgeschrieben. Meistens fängt es mit Figuren an, die ihn beschäftigen. Und wenn er anfängt, von diesen Figuren zu träumen, dann kommt sehr schnell das Schreiben. In der Regel geht ihm dieses Schreiben gut von der Hand, an ernsthafte Schreibblockaden kann er sich nicht erinnern. Auf acht Stunden kommt er pro Tag. „Es ist ein einsames Tun, man hört immer nur die eigene Stimme. Es ist das Leben eines Trappisten.“ Er will sich aber nicht beschweren; er habe dieses Leben freiwillig gewählt. Wenn er, erzählt Timm, in einem Roman mal nicht weiterkomme, dann gehe er ein bisschen wie auf Erbsen durch den Englischen Garten. Für einen kurzen Moment schweifen die Gedanken ab, und man stellt sich Timm in dieser speziellen Art des Gehens vor.
„Letztlich ist der Ort, an dem man als Schriftsteller die Probleme lösen kann, immer der Schreibtisch.“ Der steht in einem eher karg möblierten Turmzimmer, durch dessen Fenster man zumindest im Herbst und Winter, wenn die Bäume nicht den Blick versperren, linker Hand auf die Frauenkirche schauen kann. „Da drüben sieht man Stasi und Blasi“, sagt Timm. Er kann nur die beiden Türme der Kirche meinen, die im Volksmund augenscheinlich so genannt werden.
Am Ende des Besuchs gibt es eine Szene, die alles sagt. Alles sagt über den Menschen Uwe Timm. Und wenn auch nicht alles, so doch sehr viel. „Hier, das ist meine Visitenkarte“, sagt Timm auf dem Weg zur Haustüre. „Da steht noch Doktor drauf, ich weiß auch nicht, na jedenfalls...“. Den Satz bringt er nicht zu Ende, man spürt, dass ihm das mit dem Doktortitel eher unangenehm ist. Also verschwindet das kleine Kärtchen dezent in der Jackentasche des Besuchers. Und da steckt es dann. Wie versteckt. Muss ja niemand wissen, dass einer der erfolgreichsten Schriftsteller des Landes auch noch einen Doktor hat.
Und während man über die imposante Holztreppe von der vierten Etage nach unten schreitet, denkt man, dass es stimmt, was alle sagen über diesen Mann: Uwe Timm ist der bescheidenste, sympathischste und überhaupt höflichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Auch ohne Händeschütteln.
Nachher, auf dem Rückweg, muss man über einen Satz von Uwe Timm nachdenken. „Vielleicht lesen die Menschen ja mal wieder ein gutes Buch, jetzt, da sie gezwungenermaßen zu Hause bleiben müssen.“ An eines seiner eigenen Bücher wird er in dem Moment kaum gedacht haben. Werbung für seine Bücher müssen andere machen. Schon eher an „Die Pest“ von Albert Camus, in das er neulich mal wieder hineingelesen habe, wie er sich ausdrückt. „Dieser Roman ist hoch aktuell, da er Fragen aufwirft, die sich die Menschen angesichts der aktuellen Krise stellen. Zum Beispiel die Frage, ob eine Seuche eine Strafe Gottes ist.“
Es waren Albert Camus und dessen Ethik des Absurden, über die Uwe Timm vor sehr langer Zeit in Paris promoviert hat. Es sei noch erwähnt. Wichtig ist das nicht.