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Premiere: Bewegend nah statt spröde

Premiere : Bewegend nah statt spröde

Spannende Umsetzung mit strengen Anforderungen: Michael Helle inszeniert Ödön von Horváths „Kasimir und Karoline“ am Theater Aachen – und holt das Werk von 1932 in die Gegenwart.

Ein Wummern und Stampfen liegt in der Luft, bedrohlich nah, hypnotisch. Die Menschen blicken gebannt nach oben – der Zeppelin überfliegt das Münchner Oktoberfest und mit ihm fliegen die Hoffnungen auf ein besseres Leben, denn es ist die Zeit der großen Arbeitslosigkeit in Deutschland, 1929, kurz nach der Weltwirtschaftskrise und kurz vor dem Erstarken der Nationalsozialisten: „Kasimir und Karoline“, das Volksstück des österreichisch-ungarischen Dramatikers Ödön von Horváth, kam 1932 in Leipzig zur Uraufführung. Für die Bühne des Theaters Aachen hat Michael Helle das spröde Werk in die Gegenwart geholt – mit starker Sprache, reduzierter Optik und bewegender Nähe. Da gibt es die Gemütlichkeit als klebrige Falle, Gier und Bosheit im Gewand biederer Bürgerlichkeit, aber stets die Suche nach Glück und Liebe.

Wiederholt herrscht bedrückende Stille zwischen den Dialogen – von Horváth gefordert. Das muss man aushalten – oben auf der Bühne und im Zuschauerraum. Achim Römer (Ausstattung) hat einen schlichten wie fabelhaft funktionierenden Raum geschaffen, der auf ganzer Breite von einer Wand aus Glühbirnen beherrscht wird. Ein dunkler Zugang lässt Assoziationen für Kirmes-Vergnügungen zu.

Je nach Emotionsgehalt einer Szene leuchtet die Wand in Farben und Farbbildern (Licht: Eduard Joepges). Da fährt donnernd das Orchestrion in die Stille, und ein Regenbogen der unerfüllten Wünsche bildet sich. Der Boden ist bedeckt mit buntem Konfetti, zerbröselte Vergnügungen, durch die man auf die Nase fallen und mitten hinein in das Gewirbel rutschen kann. Kitschiges Gesinge bis hin zur rührseligen Toselli-Serenade (Musik: Mladen Miloradović, Opernchor und Sinfonieorchester) setzten heftige Kontraste zur herben Realität.

Kasimir, der Chauffeur, hat seine Stelle verloren, er wurde „abgebaut“. Karoline, seine Braut, will sich aber amüsieren und auf der Wiesn nicht über die Zukunft nachdenken. Das Gespräch der beiden driftet ab in Deutungen, Unterstellungen, schließlich in gegenseitige Vorwürfe. Die Beziehung zerbricht. Thomas Hamm versinkt als Kasimir starr und düster in eine Verzweiflung, die ihn von allen abschottet. Sein Blick ist grau, leer und matt in die Ferne gerichtet, der Mund hat einen bitteren Zug. Der Optimismus der fröhlichen Karoline schmerzt und provoziert ihn.

Melina Pyschny zeigt als Karoline eine junge Frau ihrer Zeit, die mit erwachtem Selbstbewusstsein (Sie hat eine Stelle im Büro!) ihr Leben und Lieben meistern will, die unbekümmert im rosa Kleidchen das Fest erkundet. Herzlos ist sie nicht, aber genervt vom Jammern und von der Eifersucht ihres Kasimirs.

Melina Pyschny spielt eine pfiffige Karoline, witzig, zeitweise so frei und frech, dass die anderen staunen. Dieses Funkeln fasziniert, es ist jung, aber nie naiv. Der als Zuschneider arbeitende „Schürzinger“, von Benedikt Voellmy mit der leicht vorgebeugten Körperhaltung eines Ja-Sagers gespielt, der für den Aufstieg fast alles tut, fühlt sich von ihr angezogen. Ist er feige? Ist er vorsichtig? Auf jeden Fall ein lauernder Beobachter.

In seiner Regie lenkt Michael Helle geschickt die Schicksale zueinander und ineinander. Da gibt es noch andere Paare: Den Gauner „Merkel Franz“, schneidend, tückisch und durchweg fies von Tim Knapper interpretiert. Blitzschnell richten sich Merkels Gewaltattacken gegen „Erna“, die sich in einer frauenverachtenden Männerwelt eingerichtet hat. Luana Bellinghausen zeigt hier eine starke Facette ihres Könnens. Fast eine Konkurrenz zu den Titel gebenden Personen: Torsten Borm als lüsterner und aufgeblähter Kommerzienrat Rauch, an seiner Seite Karl Walter Sprungala, „Richter Speer“ aus Erfurt.

Meister der Satire

Bei ihnen versackt die bürgerliche Bildungstradition in lüsterner Hemmungslosigkeit. Frauen sind Freiwild, man säuft, grapscht, wälzt sich schließlich im Dreck. Mary-Ann Berger und Christine Beck animieren die beiden als gedankenkose Wiesnbräute „Elli“ und „Maria“ zunächst mit der Aussicht auf fette Beute, merken aber bald, wie eklig das ist. Gut umgesetzt. Selbst Elisabeth Ebeling als resolute Oktoberfest-Sanitäterin kann sich das Übel nicht von den Armen und Händen scheuern. Die Ausschweifungen des Herrenpaares steigern sich, Sprungala und Borm sind Meister der Satire.

Ödön von Horváth verlangt bei der Umsetzung des Stücks ein Hochdeutsch, das so klingt, als würden die Darsteller normalerweise Mundart sprechen. Das gelingt dem Ensemble, das eine Sprachmelodie mit süddeutschen Anklängen beherrscht, leider aber oft zu leise wird.

Wenn die fesche Kellnerin (Corinna Heller) schließlich beim Ausleeren halbvoller Humpen in den Putzeimer mit schöner Stimme die „Barcarole“ aus Jaques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ singt, prägt sie eine von vielen bewegenden Szenen. Träume und Verlangen bleiben. Schmerzliches Scheitern und gebrochene Flügel gleichfalls. Viel Applaus für die psychologisch ausgestaltete, spannende Umsetzung eines komplizierten Werkes.