Aachen : „Au Monde“ im Theater Aachen: Horrorfamilie im Rausch der Klänge
Aachen Die Andeutung, das Vage, Ungeklärte, übt eine magische Macht aus. Die neue Oper „Au Monde“ von Philippe Boesmans, des nun fast 80-jährigen in seinem Heimatland Belgien überaus renommierten Komponisten, speist ihre hohe Faszination aus dieser Atmosphäre des Ungutes wähnenden Nicht-Wissens, das sich auf der Bühne des Theaters Aachen als Versuchsanordnung einer Familie darstellt.
Es ist unsere Welt, die da in einer Art zellularen Selbstzerstörungsmechanismus’ offenbar wird. Das zersetzende Gift ist hausgemacht, ins Draußen versprüht und wieder eingewandert: unsere Zeit.
Zwischen Traum und Wirklichkeit
Philippe Boesmans wählte als Li-bretto für seine siebte Oper den dramatischen Text des französischen Autors Joel Pommerat, der sich durch die avancierte Form unverbundener, fragmentarischer Szenen kennzeichnet. Gegenstand dieser dem Symbolismus oder Surrealismus verwandten, zwischen Traum und Wirklichkeit unmerklich changierenden Erzählung ist die Familie eines Groß-Industriellen, der mit Kriegswaffen eine Dynastie aufbaute. Der Vater ist alt, von seinen drei Töchtern und zwei Söhnen soll der zweite Sohn die Firma übernehmen.
Jener Ori ist Soldat, seine Rückkehr nach fünf Jahren wird ersehnt und befürchtet. Weil sie das innerhalb des Clans herrschende Gleichgewicht gefährdet. Denn längst hat der Mann der (von wem auch immer schwangeren) ältesten Tochter Einfluss auf das Geschäft übernommen, die zweite Tochter ist in eine Fernsehserie-Scheinwelt geflohen, die Jüngste (wie auch immer) gestorben und wird gerade durch eine junge Frau ersetzt. Der älteste Sohn hat ein Faible für Frauenkleider. Und Ori, der gescheiterte Soldat, zögert. Und erblindet am Ende.
Natürlich ist das alles schrecklich. Und so hört sich das auch an. Denn Boesmans ist ein Magier der subtilen Klänge, die er aus dem Steinbruch der Musikgeschichte ab- und in seinem Laboratorium umbaut, kollagiert, neu erfindet.
Während also etwa die drei Schwestern Freundlichkeiten miteinander turteln, wabert ungemütlich Leichengeruch aus dem Graben, denn im Keller des Stahl-Magnaten wimmelt es nur so von Verdrängtem und Tabuisierten. Im Grunde, könnte man sagen, ist die gesamte Kinder-Generation traumatisiert. Die Musik klingt dann wie ein Mix aus Puccini, Debussy, Berg und Morricone. Und Frank Sinatra hat sogar gleich mehrere Solo-Auftritte. Dazu gleich.
Das Sinfonieorchester Aachen jedenfalls zaubert Unglaubliches. Kapellmeister Justus Thorau hat bestens an den Details gefeilt, aber die Partitur scheint exzellent praktikabel zu sein, denn nie kommen die Sänger auf der Bühne in Gefahr, verschluckt zu werden vom Klangrausch. Das ist eine große Leistung fürs zwar mit Zeitgenössischem vertrauten, aber verglichen mit dem Brüsseler La Monnaie doch eher kleinen Haus.
Hauptperson und emotionaler Kristallisationspunkt der sich mehr und mehr verfinsternden, nur angedeuteten Handlung ist die schöne, exzentrische zweite Tochter, der Camille Schnoor ihren eleganten Körper und ihre zur weiten, wunderbaren Kantilene fähigen Sopran gibt. Um sie herum agiert ein ausgezeichnetes singendes und bestens personengeführtes Ensemble.
Tenor Johan Weigel (als Gast) forciert in der Partie des Schwiegersohns manchmal, ansonsten edler Wohlklang: Randall Jakobsh donnert den Vater, Pawel Lawreszuk zärtelt den weichlichen ersten Sohn, Hrólfur Saemundsson fasziniert als zunehmend depressiver Ori. Sanja Radiši und besonders Suzanne Jerosme überzeugen als Schwestern.
Missbrauch und Psychosen
Regisseurin Ewa Teilmans interessieren an der literarischen Vorlage die politischen Zusammenhänge nicht besonders. Ob der Verkauf von Kriegswaffen den Krieg in die eigene Familie zieht, ob Geld den Charakter verdirbt — dafür hat sie keine Bilder. Wohl aber für väterlichen Missbrauch, sexuelle Deformation, Psychosen. Auf der leeren, geheimnisvoll blaugrün illuminierten Kastenbühne von Oliver Brendel lässt sie hier mal einen Jungen mit Pappschwert hinter einer Tür erscheinen, dort Schreie durch die Wände dringen, übergroße Puppenköpfe abreißen.
Knabe mit Spielzeugkanone
Einmal rollt ein Knabe eine Spielzeugkanone durch den Saal. Sie legt nahe, sich Ori als nächtlichen Frauenmörder vorzustellen, der nebenbei Jungs liebkost. Gegen Ende lässt sie eine ganze Riege von Horrorvisionen auftreten, bei denen die Mutterfigur in Zwangsjacke einem Bild von Dalí entsprungen scheint. Dass die Regie sich auf (provozierendes) Andeuten beschränkt, entspricht dem Geist der Oper. Denn das Drama in seinem unklaren Ausmaß spielt im eigenen Kopfkino.
Das erhält in der Oper und in der Inszenierung immerzu neues Futter, etwa in der Figur der fremden Frau, die ganz in Schwarz um die Familienmitglieder herumtänzelt. Sie singt nicht, außer, wenn sie Frank Sinatras „My way“ im Musical-Lichtkegel markiert. Der Ton kommt aus dem Off, gesungen von Vater oder Sohn. Wenn sie spricht, ja gar eine aufgebrachte Strafpredigt hält, dann in einer Lautsprache ohne Sinn. Marika Meoli fungiert (im Auftrag des Schwiegersohns) hier als eine Art Katalysator des Schreckens. Auch sie eindrucksvoll, monströs. Wie eigentlich alles an diesem Abend.
Begeisterter, erschöpfter, nahezu einhelliger Applaus.