1. Kultur

Arlon: Angehörige der Opfer brachen in Tränen aus

Arlon : Angehörige der Opfer brachen in Tränen aus

Der zweite Tag im „Jahrhundertprozess” gegen Marc Dutroux und seine drei Mitangeklagten Michelle Martin, Michel Lelièvre und Michel Nihoul war geprägt von der Verlesung der 56-seitigen Anklageschrift durch Staatsanwalt Michel Bourlet, der in schrecklichen Details die Serie der Verbrechen schilderte, die der Viererbande zur Last gelegt werden.

Angehörige der Opfer brachen während der Schilderungen im Gerichtssaal in Tränen aus.

Konto in Luxemburg

Zuvor aber hatte der Prozess von Arlon eine unerwartete Richtung eingeschlagen. Der Gerichtsvorsitzende Stephane Goux gab dem Antrag der Verteidigung statt, das bisher getrennt behandelte „Dossier B” der 440.000 Seiten starken Hauptakte hinzuzufügen. Dieser Anhang war im Oktober 2001 von der Hauptuntersuchungsakte getrennt worden, um letztere endlich abschließen und den Prozess beginnen zu können.

Das „Dossier B” enthält zahlreiche Spuren und Indizien, die nach Ansicht der Verteidigung und auch eines Teils der Eltern der Dutroux-Opfer die Existenz eines Pädophilen-Netzwerks bestätigen könnten, wenn man ihnen auf den Grund ginge.

So sind im Haus von Dutroux und im verborgenen Kellerverlies, in dem die damals achtjährigen Julie und Melissa festgehalten wurden, sowie im Dutroux-Fahrzeug Tausende von Haaren gefunden worden, deren Herkunft ungeklärt ist. Auch Spuren von Blut und Sperma konnten gesichert werden. Damit gilt als sicher, dass sich auch andere, bisher noch nicht identifizierte Personen im Verlies aufgehalten haben. Bisher ist aber nur ein Bruchteil der Spuren analysiert worden. Zudem enthält diese Akte Informationen über ein Bankkonto Dutroux in Luxemburg.

Mangelhaft gesichert

Die Vernachlässigung dieser Fährten durch den Untersuchungsrichter Jacques Langlois, der beharrlich die Theorie des isolierten Einzeltäters zu belegen versuchte, hat in den letzten Jahren zu viel Streit zwischen Langlois und Staatsanwalt Bourlet, aber auch mit einigen Eltern geführt. Der Boykott des Prozesses durch die Eltern von Julie und Melissa ist zum größten Teil auf diese Verwerfungen zurückzuführen.

Eine andere Aufsehen erregende Meldung am Rande des Prozesses mutete wie ein schlechter Scherz an: Als am Montag Abend im belgischen Fernsehen gezeigt wurde, dass die Hecktüre des Transporters, in dem Marc Dutroux am ersten Prozesstag zum Gerichtsgebäude gefahren wurde, nicht ordentlich geschlossen war, konnten die meisten Belgier vor den Bildschirmen nur ungläubig den Kopf schütteln.

Die dramatischen Bilder vom April 1998, als dem Staatsfeind Nummer Eins beim Transport zu einem Gerichtstermin die Flucht gelang, kamen wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Sofort waren damals die wildesten Spekulationen in Umlauf gekommen, wonach man Dutroux absichtlich habe entwischen lassen, damit er auf der Flucht - von wem auch immer: Mafia, Staat, Polizei - erschossen wird. So hätte demnach verhindert werden sollen, dass der Kinderschänder seine Geheimnisse und Informationen über die angeblich in die Affäre verwickelten hohen Kreise preisgibt. Als er wenige Stunden später lebend gefasst wurde, stürzte dieses Konstrukt in sich zusammen.

Auch wenn am Montagabend ein Fluchtversuch tatsächlich nicht möglich gewesen wäre, wie eine Polizeisprecherin beschwor, zeigt die Episode doch den Besorgnis erregenden Mangel an Sensibilität der belgischen Polizei. Mit einer solchen Vorgeschichte hätte man erwartet, dass die Polizisten sich besonders aufmerksam und vorsichtig zeigen.