Aachen : Alte Kämpfer gelangten schnell zu neuen Ehren
Aachen Der Fall Schwerte/Schneider war für die RWTH eine Katastrophe. Zum einen grundsätzlich, weil ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer unter falschem Namen Rektor werden konnte, zum anderen, weil der Skandal von Dritten, der Presse, aufgedeckt wurde - an der Hochschule selbst hatte man es jahrelang bei Gerüchten bewenden lassen.
Ein traumatischer Vorgang, an dem sich die akademische Gemeinde schwer abarbeitete. Direkte Folge der fatalen Vorgänge aus dem Jahr 1995: In dreijähriger Arbeit wurden jetzt 146 biographische Dossiers über prominente TH-Angehörige erstellt, in denen nicht allein eine wie auch immer geartete „Verstrickung” ins NS-Regime untersucht wurde, sondern auch das Verhalten dieser „herausragenden Persönlichkeiten” nach 1945. Herausgekommen ist eine 800 Seiten starke Datenbank, die ab sofort für Anfragen zur Verfügung steht.
Erbe der Vergangenheit, Vergangenheitspolitik, Vergangenheitsbewältigung - Begriffe, die die Schwierigkeiten mit dem Thema deutlich machen: Was kann man 60, 70 Jahre später noch verbindlich aus der Tatsache schließen, dass jemand Mitglied der NSDAP war, dass er sich von den Nazis anderweitig vereinnahmen ließ, dass er vielleicht nur Situationen nicht gewachsen war, die in einer Demokratie nicht vorkommen?
Doch auch: Was ist davon zu halten, dass die Eliten der Nazizeit mehr oder weniger ungeschoren in die Spitzenpositionen der neuen Bundesrepublik wechseln konnten? Dass „kollektives Beschweigen” der alten Geschichten gang und gäbe war, möglicherweise gar zu den Voraussetzungen für ein Funktionieren der Nachkriegsgesellschaft gehörte? Was ist alles unter den Tisch gekehrt worden?
An dieser Kultur des Wegsehens nicht länger beteiligt zu sein, ist nicht zuletzt Sinn und Zweck der jetzt vorliegenden Untersuchungen, die am Historischen Institut von Stefan Krebs M. A. und Dr. Werner Tschacher bearbeitet wurden, unter Leitung von Prof. Dr. Armin Heinen, der auch Korektor ist. Als Basis diente unter anderem die verdienstvolle Arbeit „Die Technische Hochschule im Dritten Reich” von Ulrich Kalkmann, dessen Forschungen aber mit dem Kriegsende 1945 abbrechen.
In der Datenbank erfasst wurden ausschließlich Repräsentanten der TH mit „besonderer Außenwirkung” - 46 Rektoren, 51 Ehrensenatoren, sechs Nobelpreisträger und 85 (Straßen-)Namensgeber. Fazit: Die Recherchen haben gezeigt, so Tschacher, dass es in zahlreichen Fällen eine sehr viel größere Nähe zum NS-Regime gegeben hat als bislang bekannt. Mit einer Ausnahme allerdings gibt es keinen aufsehenerregenden „Fall” vom Kaliber Schneider/Schwerte, was freilich einen ganz banalen Grund haben könnte: „Wir stoßen an Kapazitätsgrenzen”, betont Heinen, im Grunde müsste - Person für Person - jeder Lebenslauf akribisch nachgezeichnet werden, um zu verlässlichen Wertungen zu kommen.
Eins steht allerdings außer Frage: Auch an der RWTH Aachen wurde nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur nicht groß nachgefragt, wer was gewesen war oder getan hatte. Alte Kämpfer gelangten schnell zu neuen Ehren, gegenseitige Persilscheine gab es zuhauf, durchweg wurde eine „fragwürdige Darstellung der Geschehnisse” gepflegt. Laut Krebs weist die Selbstdarstellung der TH an dieser Stelle „erhebliche Defizite” auf, und weiter: Die Festschriften der Jahre 1970 und 1995 sowie das Management bei der Schneider/Schwerte-Pleite „stehen für das diesbezügliche Versagen der Institution Hochschule”.
Was anfangen mit dem Material? Heinen geht davon aus, dass bei künftigen Festschriften/Ehrungen/ähnlichen Vorkommnissen nicht mehr so kritiklos wie bisher über Karrieren in der NS-Zeit hinweggegangen wird, „das wird sicherlich kommentiert”. Angefangen haben die Historiker mit der „Walter-Rohland-Bibliothek” in ihrem eigenen Institut, benannt nach einem Stahlexperten und Panzerbauer, dem Mitverantwortung am Einsatz von Zwangsarbeitern zugeschrieben wird. Das Problem: Hat der Mann später Einsicht gezeigt - „Menschen ändern sich” (Heinen).
Kommentar des Experten und Emeritus Prof. Klaus Schwabe: „Wir haben es hier mit einem Minenfeld zu tun.”