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Aachen: Aachener erobert die Kunstwelt mit digitalen Werken

Aachen : Aachener erobert die Kunstwelt mit digitalen Werken

Das ziemlich wilde Sammelsurium offenbar unverzichtbarer Schätzchen, und seien sie noch so unscheinbar, mag als typisch gelten für das Atelier eines Künstlers — allein: In diesem Exemplar in einem Altbau im Frankenberger Viertel in Aachen, da fehlen die Farbtuben, die Pinsel und mindestens eine Leinwand.

Nicht einmal der einschlägige Geruch frischer Ölfarbe ist zu spüren. Und doch entstehen hier Bilder, die in ganz Europa und den USA ihre Liebhaber finden. An der Wand hängen ein paar Fotografien davon: Rätselhafte, puppenartige, dreidimensional wirkende Gestalten scheinen sich in einer Art Bühnenlandschaft zu bewegen. Der raumbeherrschende Schreibtisch mit dem Computer und zwei nebeneinanderstehenden Monitoren gibt den Hinweis auf die Art der Entstehung dieser Werke . . .

 Dieses Bild gehört zu einer raumfüllenden Installation im Kunstverein Düsseldorf: Entstanden ist es am Computer, die Haut der Figur wurde gemalt.
Dieses Bild gehört zu einer raumfüllenden Installation im Kunstverein Düsseldorf: Entstanden ist es am Computer, die Haut der Figur wurde gemalt. Foto: Courtesy

Los Angeles, New York, Mailand — an den wichtigsten Kunststandorten vertreten ihn namhafte Galeristen: Tim Berresheim, 1975 geboren in Heinsberg. Im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in Düsseldorf läuft gerade seine bislang größte Ausstellung: „Auge und Welt“, noch bis zum 11. Januar zu sehen. Und von Oktober 2015 bis Januar 2016 gibt es die erste Überblicksschau im Aachener Ludwig Forum.

Tim Berresheim ist gerade im Begriff, mit seiner Familie und dem Atelier umzuziehen ins Jakobsviertel. Dort hat er vor zwei Wochen ein Ladenlokal eröffnet, in dem er unter anderem die Alben seines eigenen Labels, „Studios New Amerika“, verkauft. Mit Jonathan Meese, den er vor zehn Jahren kennenlernte, hat er zahlreiche Platten aufgenommen. Musiker ist der Mann nämlich auch, und das keineswegs nur „nebenbei“, darüber hinaus Gestalter von so alltäglichen Dingen wie T-Shirts und Taschen.

Und neben dem Aachener Ladenlokal betreibt er in Köln und in Aachen zusammen mit Wolfgang Brauneis auch noch das „Institut für Betrachtung“ — erklärtermaßen eine Alternative zu Galerien und Kunstvereinen, um die „Angst und Freudlosigkeit des gegenwärtigen Kunstbetriebs (. . .) hinter uns zu lassen (. . .)“ So endet ein regelrechtes Manifest auf der Website http://ifb.c-o.org.

Den Computer als künstlerisches Kreativwerkzeug anwenden — Tim Berresheim erzählt, über welche Umwege er zu seiner Berufung gelangt ist. Die frühe Affinität zur digitalen Welt belegt das zeitweilige Studium der Informatik, bis eine Begegnung mit Burkhard Driest seinem Leben eine neue Richtung gab. Der Autor, Regisseur und Schauspieler wohnte damals noch im belgischen Gemmenich und suchte einen Praktikanten, der ihm beim Verfassen von Drehbüchern helfen sollte. Berresheim bekam den Job.

„Es ging dabei darum, eine Konstruktion, ein Grundgerüst, das nach einer Dramentheorie entworfen wurde, mit Leben zu füllen.“ Driest war es, der bei ihm den Wunsch weckte und ihn auch ausdrücklich dazu animierte, Filmemacher zu werden. So begann er ein Studium an der Kunsthochschule in Braunschweig, kam dort aber ab von der Filmerei hin zur Malerei, die auch Teil des Studiums war. „Da habe ich mein erstes Bild gemalt“, erinnert sich der 39-Jährige. Das war in der Klasse von Johannes Brus. Nach zwei Jahren wechselte er 2000 an die Düsseldorfer Kunstakademie und wurde dort Assistent von Albert Oehlen.

Um 2002/2003 herum hatte er es dann einfach satt, wie alle immer dicker die Farbe auf die Leinwand aufzutragen — mit all den unzeitgemäßen Fehlern und dem altbackenen Ausdruck, die diese als vorsintflutlich empfundene Technik mit sich bringt: die Unschärfen, die Spuren der unsicheren Hand. Und wenn man immer näher und schließlich ganz nahe an ein Gemälde herantritt, dann löst sich alles auch noch auf. Kurz: In Tim Berresheim keimte es auf wie eine Vision: das perfekte Bild zu gestalten — technisch wie formal, mit zeitgemäßen Mitteln. Ohne es der Exklusivität der Kunst und den gängigen Deutungen zu überlassen: „Der Begriff der Kunst ist nicht sicher“, sagt er. Sein Ziel, ganz schlicht formuliert: Bilder herzustellen, die keinem wie auch immer gearteten Genre zuzuordnen sind.

Berresheim zeigt ein Beispiel: ein 90 mal 130 Zentimeter großes Bild — auf den ersten Blick könnte es gestischer Malerei entsprungen sein. „Es besteht aus 25 Millionen Härchen, die wie Wasser fließen.“ Dazu benutzte er ein Wasserfallsimulations-Programm, bei dem er das Wasser durch Härchen ersetzte. Der Rechenprozess dauerte zwei Wochen. Entstanden ist so etwas wie ein Kippbild — je nach Art der Wahrnehmung sieht man Wellen, Wasser, Haar, Strömungen, Bewegung, eine Komposition des Unbestimmbaren.

Die Perfektion liegt für ihn darin, dass sich die Strukturen selbst aus allernächster Betrachtung nicht wie bei einem traditionell gemalten Bild auflösen. Die Technik, die das leistet: Die Bilder werden nicht gedruckt, sondern aufs Feinste als Fotoabzug ausbelichtet. Damit wird jede Spur der Herstellung vermieden.

Bei seiner ersten Einzelausstellung in Köln zeigte er ein 250 mal 400 Zentimeter großes Computerbild, „The Muse“, das im Nachhinein als programmatisch zu werten ist: Zwei hyperreal wirkende Figuren agieren in einem bühnenähnlichen Raum — dargestellt mit einer Präzision, die keine andere künstlerische Technik erreichen könnte.

Kurioserweise integriert Berresheim längst wieder die analoge Technik der Kunst in die digitale — die Malerei, um letztlich eine noch höhere Präzision zu erreichen. Und um sich selbst, wie er meint, aus dem ganzen Prozess völlig herauszunehmen. „Die Bilder sollen jenseits meines persönlichen Geschmacks entstehen. Ich vermeide es, meine eigene Sozialisation einzubringen.“

Lebensgroße, menschenähnliche Figuren, die jetzt in der raumgreifenden Installation in Düsseldorf zu sehen sind, entstanden über die Herstellung der originalen „Haut“ mittels malerischer Mittel: Ein Assistent zeichnete und malte viereinhalb Monate die musterartigen Gebilde und farbenfrohe Formen auf Papier, das als Haut dann per Hand den Figuren aufgezogen wurde, um schließlich wieder dreidimensional digitalisiert und ins Computerbild integriert zu werden. Der Fotoabzug ist perfekt: ohne jedes Korn oder Raster, ohne jedes jpg-Artefakt.

Die Interpretation der Bilder lehnt Berresheim konsequent ab: „Das Deuten hat überhand genommen“, sagt er. „Und das Sehen hat abgenommen.“ Sprache empfindet er als „Herrschaftssystem“. Die Kraft der Bilder soll für sich sprechen, sie soll gesehen werden.

Figuren immerhin sind das zentrale Motiv — in Posen und mit sprechenden Attributen inszeniert in bühnenähnlichen Räumen, bisweilen umrahmt von schmückenden Elementen in einem irritierenden Kontrast von ästhetischer Kühle und lebhaft-fröhlichen Formen — eine bislang unbekannte Bildwelt, die Zitate aus der Kunstgeschichte nicht auslässt. Aber das ist im Sinne von Berresheim ja wahrscheinlich auch wieder nur eine fehlgeleitete Deutung . . .

Und wenn der Künstler dann doch einmal zumindest über sein Zeitempfinden oder so etwas wie den Zeitgeist spricht, dann gebraucht er die Kategorie „Transit“, und meint den „Übergang, in dem wir heute alle leben“. Das ist sein Thema.

Zum Schluss unserer Begegnung zeigt er sein Depot in einer alten Fabrik im Frankenberger Viertel: „Das ist eine Überseekiste“, sagt er und weist auf einen fast vier Meter hohen Holzkasten. Das Bild ist gerade von einer Ausstellung aus den USA zurückgekehrt. Fans gibt es jedenfalls genug: Internationale Sammler warten sehnsüchtig auf neue Bilder von Tim Berresheim, made in Aachen.