Sekundenschlaf : Gefährlicher Blindflug am Steuer
Aachen Jeder fünfte Unfall wird Schätzungen zufolge dadurch verursacht, dass jemand hinter dem Lenkrad einschläft. Besonders Menschen unter 30 neigen dazu, sich zu überschätzen. WirHier testet, wie es sich anfühlt, plötzlich blind zu fahren.
Meine Glieder und Schultern sind schwer, ich habe Druck auf dem Kopf. Ich bewege mich langsam, habe Probleme, geradeaus zu gehen. Was nach dem Morgen nach einer Nacht ohne Schlaf klingt, ist das Ergebnis einer Müdigkeitssimulation. Im Aachener Forschungszentrum von Autohersteller Ford hat Monika Wagener mir eine Weste angelegt, eine Manschette um das linke Fußgelenk und eine um den rechten Unterarm geschnallt. Auf meinem Kopf sitzt eine Kappe mit Gewichten. Alles zusammen wiegt mehr als 18 Kilo. Zusätzlich habe ich eine Brille auf die Nase bekommen. Per App kann Wagener mich mit deren Hilfen in den „Sekundenschlaf“ versetzen. Zuerst machen wir einen Trockentest: Im Foyer des Forschungszentrums soll ich entlang einer mit Klebeband markierten Linie laufen: Geradeaus, einmal um die Ecke, weiter geradeaus. Schon das fällt mir schwer. Jetzt soll ich auch noch Autofahren.
Wie viele Unfällen tatsächlich durch Übermüdung verursacht werden, ist im Nachhinein schwer festzustellen. Das Deutsche Luft-und Raumfahrtzentrum schätzt allerdings, dass fast jeder fünfte Unfall Folge von Sekundenschlaf ist. Nachts seien es sogar 42 Prozent. „Menschen im Altersbereich zwischen 18 und 29 Jahren sind besonders gefährdet“, sagt Thomas Müther vom ADAC Nordrhein. „Sie glauben, dass frische Luft, Koffein und laute Musik gegen Müdigkeit helfen“, sagt Müther. Das sei jedoch ein gefährlicher Trugschluss und die Wirkung solcher Maßnahmen nur kurzfristig.
17 Stunden ohne Schlaf
wirken wie eine Flasche Bier
„Es ist enorm wichtig, jungen Menschen aufzuzeigen, wie verheerend es sein kann, unter bestimmten Einflüssen zu fahren“, sagt auch Monika Wagener. Ford bietet daher Fahrsicherheitstrainings für 17- bis 24-Jährige an, in denen neben Schlafmangel auch der Einfluss von Drogen und Alkohol demonstriert wird. Die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung bewertet Schlaftrunkenheit sogar als ähnlich gefährlich wie den Konsum von Alkohol. 17 Stunden ohne Schlaf entsprechen demzufolge einem Blutalkoholwert von 0,5 Promille, 22 Stunden sogar einem Wert von 1,0 Promille. Nach einem langen Arbeitstag noch eine große Tour zu starten oder nach einer durchfeierten Nacht – auch ohne Alkoholeinfluss – alle Freunde nach Hause zu bringen, ist also keine gute Idee.
Wie gefährlich es ist, während der Fahrt mal kurz die Augen zuzumachen, soll ich jetzt am eigenen Leib erfahren. Ich schleppe mich bis zum Auto, lasse mich schwerfällig hinter das Steuer sinken und fahre los. Wagener aktiviert die Brille. Drei Mal wird es kurz dunkel, als würde ich lange blinzeln. Dann bleibt es schwarz vor meinen Augen. Vier Sekunden lang fahre ich im totalen Blindflug. Weil ich nur mit Schrittgeschwindigkeit auf dem Parkplatz unterwegs bin, kann ich mich zunächst auf meine Erinnerung der Umgebung und die vor mir liegenden Meter verlassen. Doch die vier Sekunden dauern schon bei meiner Geschwindigkeit von wenigen Stundenkilometern überraschend lang. Ich bekomme so viel Angst, in die parkenden Autos zu knallen, dass ich auf die Bremse trete. Auf der Autobahn legt man in der gleichen Zeit schon mit nur 100 Kilometern pro Stunde bereits 112 Meter blind zurück.
Nickerchen und
Kaffee können helfen
Neben der Brille verstärken die Gewichte an meinem Körper das Gefühl, zu schläfrig und träge zu sein, um rechtzeitig zu reagieren. Die Weste und die Kappe drücken mich tiefer in den Sitz.
Wer in einer realen Fahrsituation Symptome von Übermüdung an sich feststellt, sollte sofort eine Pause machen, mahnt ADAC-Sprecher Müther an. Der Sekundenschlaf kommt schließlich nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel, sondern kündigt sich an: Man muss gähnen, die Lider werden schwer, man kann die Spur nur schwer halten, die Straße fühlt sich eng an oder man kann sich nicht an Schilder erinnern, an denen man vorbei gefahren ist. Sobald eines oder mehrere dieser Anzeichen auftreten, rät Müther dazu, ein Nickerchen einzulegen: „Schon ein Kurzschlaf von etwa 20 Minuten und etwas Bewegung machen für eine Weile wieder fit. Wenn man vorher noch einen starken Kaffee trinkt, steigert das in dieser Kombination den wachmachenden Effekt.“
Auf diesen Energiekick kann ich bei meiner Testfahrt nicht zurückgreifen. Nach einer halben Stunde steige ich im Schneckentempo wieder aus dem Wagen. Das Experment hat mich beeindruckt.
Natürlich war ich nicht unter Realbedingungen unterwegs: Ich war darauf vorbereitet, dass es schwarz vor meinen Augen werden würde und noch dazu nur mit Schrittgeschwindigkeit auf einem Areal unterwegs, auf dem keine anderen Autos fuhren. Schon in dieser Situation habe ich mich aber extrem unwohl und unsicher gefühlt: Vier Sekunden sind einfach verdammt lang, wenn man sich in einem motorisierten Fahrzeug vorwärts bewegt und nicht sieht, was um einen herum passiert. Was Sekundenschlaf bei voller Fahrt auf der Autobahn für einen selbst und alle anderen in der näheren Umgebung bedeuten kann, mag man sich gar nicht ausmalen.
Die Testfahrt im Video gibt es auf az-web.de und an-online.de.