La Boverie zeigt Skulpturen des Hyperrealismus : Ein tiefer Blick in die menschliche Natur
Detailgenau, manchmal verstörend und mit viel Haut: Das Museum La Boverie in Lüttich zeigt eine großartige Übersicht über Skulpturen des Hyperrealismus.
Man möchte die Hand ausstrecken und die feinen Härchen am Arm der Frau berühren. Oder wenigstens über das Tuch streichen, das nach Seide aussieht, aber aus Silikon geformt ist. Nur, um zu wissen, wie sich etwas anfühlt, das echter als echt aussieht, es aber offenkundig nicht ist. In kaum einer Ausstellung gibt es so viel nackte Haut zu sehen, und nirgends sonst fällt es dem Besucher so schwer, die Werke nicht anzufassen. Dieser Effekt ist den Machern der sehenswerten Ausstellung „Hyperrealism Sculpture. Ceci n’est pas un corps“ (Das ist kein Körper) – eine Anspielung auf René Magrittes „Ceci n’ est pas un pipe“ (Das ist keine Pfeife) – gelungen. Ein kleiner Silikonblock im ersten Raum soll dieses Bedürfnis befriedigen, allein ihn darf man berühren.
42 Skulpturen von rund 30 Künstlern aus Amerika, aus Australien, aber auch aus Europa – Frankreich, Belgien, den Niederlanden oder der Schweiz – sind im Lütticher Museum La Boverie auf der kleinen Insel in der Maas bis zum nächsten Frühjahr zu sehen. Die Ausstellung ist als Retrospektive gedacht und zeigt, wie sich diese Kunstrichtung bis heute entwickelt hat. Und sie gibt einen Ausblick darauf, in welche Richtung es weitergehen könnte. Kuratiert wurde sie von der belgischen Kulturagentur Tempora in Brüssel und dem deutschen Institut für Kulturaustausch in Tübingen. Lüttich ist nun die letzte Station der Wanderausstellung, die bereits in Bilbao (Spanien), Monterrey (Mexiko), Canberra (Australien) und Rotterdam zu sehen war.
Duane Hanson und John DeAndrea
Entstanden ist der Hyperrealismus in Amerika in den 60er Jahren mit Künstlern wie John DeAndrea, Duane Hanson oder George Segal als Antwort oder auch als Gegenentwurf zur Dominanz der abstrakten Kunst. Die Übersteigerung des Realen, die Nachbildung des menschlichen Körpers bis in die kleinsten Details hinein wirkt zunächst wie eine rein technische Angelegenheit, bei der man die Schichten aus Materialien wie Harz, Silikon, Metall, Holz oder Wachs nur möglichst versiert aufeinander schichtet, um den Effekt der Echtheit zu erzielen. Aber es geht um mehr als darum, die Grenzen der Technik auszuloten: Mit jeder Schicht, die auf das leblose Körpermodell aufgetragen wird, mit der es an optischer Lebendigkeit gewinnt, entblättern Künstler die menschliche Natur, rücken ihr im wahrsten Sinn des Wortes zu Leibe.
Menschliche Körper sind schon immer Anschauungsobjekt der Kunst gewesen, im Hyperrealismus kriecht der Künstler jedoch fast in sie hinein, um mehr über sie und ihr Innenleben zu erfahren. Das Anschauen der Körper und Körperteile, der Szenen und Posen, ist voyeuristisch, keine Frage, aber es ist auch sezierend und von großer Neugier angetrieben, so als würde man sich selbst in einem Spiegel mit 50-facher Vergrößerung betrachten: Was man da sieht, kann zugleich irritierend fremd und doch vertraut sein. So ist es auch mit den zahlreichen Darstellungen von Körpern in dieser Ausstellung: Sie zeigen Anstößiges, Abstoßendes, Anziehendes, Kreatürliches, Künstliches, Nacktes, Verhülltes, Verzerrtes, sie erzählen von der Geburt und vom Tod und von den Dingen dazwischen, sie irritieren und verstören und zeigen doch nicht mehr als das, was jeder Besucher mitbringt – Körper.
Insgesamt haben die Kuratoren die Ausstellung in sechs verschiedene Bereiche unterteilt, die es dem Besucher leichter machen, die verschiedenen Ausdrucksformen des Hyperrealismus nachzuvollziehen: menschliche Nachbildungen, monochrome Skulpturen, Körperteile, Spiel mit den Dimensionen, verformte Realitäten und bewegliche Grenzen. Die kurzen Texte, die jede der Kategorien erklären, sind viersprachig; Englisch, Französisch, Niederländisch und Deutsch.
Gegen das Verstörende der Körper wie zum Beispiel bei der gigantischen, fünf Meter langen Skulptur von Ron Mueck eines gerade geborenen Mädchens mit Resten von Blut und noch bläulicher Nabelschnur („A Girl“, 2006) nehmen sich die Anfänge des Hyperrealismus fast naiv aus.
Alltagsszenen mit Requisiten
Der wohl bekannteste der Hyperrealisten, Duane Hanson, den Aachenern durch die „Supermarket Lady“ im Ludwig Forum vertraut, ist mit zwei Werken in Lüttich vertreten: „Cowboy with Hay“ (Cowbow mit Heuballen, 1984/1989) und „Two Workers“ (Zwei Arbeiter, 1993). In seinen großzügig ausstaffierten Alltagsszenen mit allerlei originalen Requisiten zeigt er die Abgehängten einer Gesellschaft, für die sich der amerikanische Traum nicht bewahrheitet hat.
In ganz anderer Ästhetik präsentiert sich eine Skulptur von John DeAndrea, auch er einer der amerikanischen Pioniere des Hyperrealismus. Die schlafende Frau mit dem locker umhüllenden roten Tuch – Modell für sie stand seine Tochter („Girl with a Red Drape“,1984) – erinnert an ein klassische Ölgemälde, in denen der Faltenwurf des Tuchs besonders naturalistisch dargestellt werden sollte.
Dagegen haben die drei Frauen-Skulpturen von Paul McCarthy „That Girl (T.G. Awake“, 2012/13) fast etwas aggressiv Sexuelles. Obwohl schwer zu sagen ist, worin das Aggressive besteht, wird doch nur der nackte Körper derselben Frau in minimal veränderter Haltung dargestellt. Weder ist es vulgär noch aufreizend, am ehesten ist es dieser nüchterne, fast medizinische Blick auf die Frau, der verstört.
Bei Körperteilen ist es schwierig, sie nicht als Objekt zu sehen. Der britische Künstler Allen Jones übersteigert die Objekthaftigkeit. Seine Skulptur „Secretary“ (Sekretärinnen, 1972) zeigt weibliche Beine, die aus der Wand zu kommen scheinen, eine Hand gibt es noch, die dem Betrachter entgegengestreckt wird – mehr als lange Beine und eine begrüßende Hand braucht die perfekte Bürogehilfin/-gespielin nicht. Eine der Künstlerinnen in der Ausstellung, Carole A. Feuerman, macht das Gegenteil: Sie baut Frauentorsi aus Epoxydharz und Silikon, die wohl kaum mit einem Objekt verwechselt werden können.
Dass es allesamt Schwimmerinnen sind, die sie nachbildet, hat mit der unglücklichen Geschichte ihrer ersten Ausstellung zu tun. Sie wurde in den 70ern am Tag der Eröffnung abgesagt, weil ihre Frauenkörper zu anstößig seien. Als Amerikanerin wusste Feuerman, dass ihre puritanischen Landsleute gegen Sportdarstellungen nichts einzuwenden haben. Seit den 80er Jahren macht sie nun wassertropfende Büsten von Frauen, die in sich versunken wirken und sich mit ihren geschlossenen Augen jeder Beurteilung der Außenwelt erfolgreich entziehen.
Figuren zu vergrößern oder zu verkleinern, ist ebenfalls eine Möglichkeit der Verfremdung. Welch eigenartigen Effekt eine vollständig realistisch gebaute Figur in einer unerwarteten Größe bekommt, lässt sich bei dem oben erwähnten „Riesenbaby“ von Mueck nachvollziehen. Die Skulptur eines alten Paares „Embrace“ (Umarmung, 2014) des aus Serbien stammenden amerikanischen Künstlers Marc Sijan erzählt von Liebe und Vergänglichkeit realistisch bis in die letzte Hautpore. Weil die Skulptur im Vergleich zur Realität leicht verkleinert ist, wirkt das dargestellte Paar ebenso schutzbedürftig wie die zarte, kniende Frau des Australiers Sam Jinks.
Unter dem Thema der deformierten Realitäten zeigt der südafrikanische Künstler Evan Penny verschobene Köpfe, die aus mehreren Perspektiven betrachtet werden können, Patricia Piccinini verstört mit hybriden Zwitterwesen aus Mensch und Tier. Zartbesaitete könnten in diesem Teil auch durch die flämische Künstlerin Berlinde de Bruyckere an ihre Grenzen geraten. Ihre Wachsskulpturen zeigen kopflose menschliche Leichen am Beginn der Verwesung.
Einen Ausblick auf die nahe Zukunft des Hyperrealismus will der letzte Teil der Ausstellung geben: Während sich die bis dahin gezeigten Werke auf drei Dimensionen beschränken, geraten hier die Körper in Bewegung, werden die Skulpturen mit Ton und Video zum Leben erweckt. Dabei gehen die Werke der Französin Mathilde ter Heijne oder der Schwedin Anna Uddenberg mit ihren Requisiten und Accessoires optisch fast an den Beginn des Hyperrealismus bei Duane Hanson zurück, thematisieren aber beispielsweise die Digitalisierung.
„Jonathan“ telefoniert
Besonders faszinierend ist dabei die Installation „Jonathan“ des Schweizer Künstlerduos Glaser/Kunz aus dem Jahr 2009. Sie stellt einen Kunstsammler dar, der nach einem Unfall bandagiert im Rollstuhl sitzt. Seine zahlreichen Handicaps halten den Sammler nicht davon ab, weiter per Handy Kunst zu ordern. Der Betrachter wird Zeuge der weltmännischen Gespräche in Englisch, Deutsch und Französisch und beobachtet voller Staunen das per Projektion bewegte Gesicht des Mannes, der Grimassen schneidet, lacht, mit den Augen rollt, überlegt, antwortet und zuhört. Mit „Jonathan“ waren die Künstler Daniel Glaser und Magdalena Kunz übrigens auch auf der Art Basel zu Gast. Ihrem Exponat im Rollstuhl haben sie damals eine eigene Eintrittskarte gekauft.