Aachen : E-Mail: Opfer ihres Erfolgs
Aachen Elektronische Post als alleiniges Mittel der digitalen Kommunikation ist nicht mehr zeitgemäß. Unternehmen wenden sich neuen Formen des Informationsaustauschs zu.
Etwas mehr als 20 Jahre währt die Erfolgsgeschichte der elektronischen Post, doch ihren Zenit hat sie wohl überschritten. Jahr für Jahr wächst zwar die Zahl der via Internet übermittelten Nachrichten. Im Jahr 2010 wurden laut Wikipedia 107 Billionen E-Mails verschickt. Doch die schiere Masse ist schon lange kein Maß mehr für die Beliebtheit der E-Mail, denn rund 90 Prozent des Volumens entfallen auf Nepper, Schlepper und Bauernfänger.
Viele Firmen bewerten Spam aber nicht mehr als so problematisch wie in früheren Jahren, weil die Filter heute lästige Botschaften sehr zuverlässig aussortieren. Die Unzufriedenheit rührt eher von vorschnell und unnötig versandter E-Post - beispielsweise von Kollegen, Projektmitarbeitern, aber auch Marketing- und Verkaufsabteilungen, die ihre Mailings unters Volk bringen.
„Das E-Mail-Aufkommen in Unternehmen ist nicht mehr wirtschaftlich zu bewältigen”, klagte etwa Thierry Breton, CEO des IT-Dienstleisters Atos. „Manager in Unternehmen verbringen zwischen fünf und 20 Stunden pro Woche damit, E-Mails zu schreiben und zu beantworten.” Eine Studie des britischen Henley Management College belegt die Aussage, was die Belastung der Manager betrifft.
Die britische Universität hat in einer europaweiten Erhebung den Mail-Verkehr von 180 Führungskräften analysiert. Knapp ein Drittel der Nachrichten seien irrelevant, lautet das Urteil. Hochgerechnet auf das gesamte Berufsleben verschwenden Manager demnach drei Jahre mit dem Bearbeiten unwichtiger Nachrichten.
Atos zieht daher die Notbremse, nicht abrupt, aber kontinuierlich. Binnen drei Jahren will das Unternehmen die E-Mail komplett aus der internen Kommunikation verbannen. „Wir können noch nicht genau alle erforderlichen Schritte bis zu diesem Ziel abschätzen. In Teilbereichen konnten wir aber bereits alternative Kommunikationskanäle einführen, die den Informationsaustausch beschleunigen und verbessern”, verzeichnet Hermann Gouverneur, CTO bei Atos Deutschland, erste Erfolge des Projekts.
Der Manager ist Mitglied der internen und globalen „Scientific Community”, die als eine Art Think Tank Zukunftsthemen diskutiert, analysiert und bewertet und dabei viel Paperware produziert. Weil die einzelnen Experten weltweit verteilt sind, kommunizieren sie untereinander hauptsächlich über elektronische Medien.
„Wir sind ein heterogenes Team”, beschreibt Gouverneur das Umfeld, „einige kennen noch die E-Mail-Netiquette, andere nicht.” Aufgrund seiner Beobachtungen unterteilt er die falsche Nutzung der E-Mail-Kommunikation in zwei Kategorien:
- Fehler eins: Chatten über E-Mail. Einige Kollegen senden Anfragen und erwarten prompte Reaktion. Meldet sich das Gegen-über nicht umgehend, wird die nächste Anfrage mit der Bitte um Reaktion auf den Weg gebracht oder eine Erklärung dafür verlangt, warum der Angeschriebene schweigt.
- Fehler zwei: Zu viel Historie. Die zweite Unart sind E-Mails, die die gesamte Kommunikationshistorie enthalten. Das ist besonders für solche Empfänger ärgerlich und zeitaufwendig, die erst spät auf dem Verteiler landen. Sie müssen sich durch den gesamten zurückliegenden Informationsaustausch kämpfen, um möglicherweise abschließend festzustellen, dass sie der Inhalt gar nicht betrifft.
Wohl jeder kennt solche Auswüchse in der digitalen Kommunikation. Einige ärgern sich darüber, andere finden sie lustig. Für Unternehmen ist die falsche E-Mail-Nutzung aber alles andere als komisch, sie ist ineffizient und kostet Geld. Das zeigt sich zuerst in der IT: Das wachsende Mail-Volumen durch große und mehrfach verschickte Attachments beansprucht immer mehr Speicherplatz und Backup-Systeme.
Zudem gefährden die übermittelten und in vielen unterschiedlichen Postkörben abgelegten Dokumente die Compliance-Regelungen der Firmen. Das unstrukturierte Speichern relevanter Informationen untergräbt die Transparenz, erschwert die Archivierung und verursacht Gesetzesverstöße.
Ineffizienzen entstehen zudem, wenn Dokumente an Projektmitglieder oder Kollegen mit der Bitte um Ergänzungen, Korrekturen und Kommentare verschickt werden. Stehen auf dem Verteiler mehrere Personen, ist eine eindeutige Versionierung der Unterlagen unmöglich. Für neue Projektmitarbeiter, die sich etwa über den aktuellen Stand der Dokumention informieren wollen, ist das fatal.
„Viele Mitarbeiter haben generell ein Gefühl der Informationsüberflutung, wobei sie den eigenen Umgang mit E-Mails fälschlicherweise oft als ihr geringstes Problem einstufen”, berichtet Stephan Schillerwein Director of Research beim Forschungs- und Beratungshaus Infocentric Research, aus seinen Projekterfahrungen. Die zum Teil mehrere Hundert ungelesenen und unbearbeiteten Mails im Postkorb - so die Meinung vieler Nutzer - habe man Griff. „Aber wenn dann der Kollege am Telefon das letzte Meeting diskutieren möchte, merkt man plötzlich, dass man das aktuelle, per Mail verschickte Sitzungsprotokoll gar nicht kennt”, beschreibt Schillerwein eine typische Situation.
In der verdichteten Arbeitswelt fehlt vielen Mitarbeitern die Muße, sich sinnvolle Ordner für eingehende Nachrichten zu überlegen, um so der Informationsflut Herr zu werden. Zum Teil sind die Nutzer auch überfordert, die Mengen eingehender Nachrichten den selbst geschaffenen Strukturen zuzuordnen. Zum Glück für alle E-Mail-Chaoten haben die Forscher von IBM jüngst herausgefunden, dass das Sortieren von E-Mails gar nicht effizienter ist als die Unordnung im Eingangskorb (siehe „