Heinsberg: Politikerin Sahra Wagenknecht gewährt Einblicke in ihre Persönlichkeit

Heinsberg : Politikerin Sahra Wagenknecht gewährt Einblicke in ihre Persönlichkeit

Sie kam, leicht verspätet, entwarf in eindrucksvoller Eloquenz, gepaart mit fast verblüffender Sicherheit im Umgang mit Daten und Fakten, ein neues Bild für Staat und Gesellschaft - und ging viel zu früh.

Den Rahmen für den beeindruckenden Besuch der 43-jährigen, gerade promovierten Politikerin in Heinsberg bot unsere Gesprächsreihe „Auf ein Wort mit...”, moderiert von Rainer Herwartz, Redaktionsleiter von Heinsberger Zeitung und Heinsberger Nachrichten. Er startete mit einer Frage, die in die Kindheit Wagenknechts zurückführte, und weitete damit den Blick auf ihre Persönlichkeit.

Sie bestätigte, schon im Alter von vier Jahren erste Bücher gelesen zu haben. „Ich habe sie regelrecht in mich hineingefressen”, erzählte sie davon, als Kind auch dafür gerne alleine gewesen zu sein. Und sie räumte ein, dass dieses frühe Lebensmuster auch heute noch ihre politische Arbeit beeinflusse. „Netzwerken” sei nicht ihr Ding, gab sie zu. „Das ist der Teil von Politik, wo ich meine Defizite habe.” Sie sehe ihre Aufgabe mehr darin, die Menschen mit ihren Argumenten zu überzeugen. Dass ihr das auch in Heinsberg bei den meisten Zuhörern gelang, zeigte der Beifall, der ihr nach rhetorisch perfekten und mit Fakten angereicherten Antworten auf die ihr gestellten Fragen sicher war.

Eindeutig Stellung bezog sie, als Herwartz sie auf die Vorwürfe ansprach, sie sei eine Verfechterin von DDR-Idealen. „Ich habe mich als Marxistin und Sozialisten verstanden und war mit vielem in der DDR nicht einverstanden”, betonte sie, ohne dabei ihre Stimme zu heben. Ohnehin verharrte sie in ihrem fast bodenlangen, dunkelroten Strickkleid in fast stoischer Ruhe in ihrem schwarzen Ledersessel, hielt ihr Mikrofon starr in der rechten Hand und gestikulierte nur hier und da dezent mit links.

Es tue doch weh, wenn sich der Staat auf Sozialismus berufe, die Menschen aber weggelaufen wären, hätte es die Mauer nicht gegeben, fuhr sie fort. Ihre Vorstellung sei ein attraktiver Sozialismus gewesen. Daher sei sie kurz vor der Wende noch in die SED eingetreten. „Ich wollte den Staat von innen verändern”, sagte sie. Nach der Wiedervereinigung habe dies bei ihr einen unglaublichen Trotz hervorgerufen. Sie habe Dinge gesagt, nach der man ihr das Image der Dogmatikerin „gestrickt” habe. „Aber wer sich mit Marx und Luxemburg beschäftigt hat, der will nicht in die DDR zurück.”

Sie sei in der DDR geboren, „die BRD war für mich ein anderes Land”, entkräftete sie für sich die Frage, ob sie nicht die Empfindung eines geteilten Volkes gehabt habe. Dass sie nicht habe reisen dürfen, sei jedoch Belastung und Diskreditierung gewesen einer Gesellschaft, die sich damit selbst ein Armutszeugnis ausgestellt habe.

In Anlehnung an den Titel ihre Buches „Freiheit statt Kapitalismus” ging Wagenknecht dann auf Bitte des Moderators auf ihre Vorstellung von Freiheit ein. „Freiheit ist, wenn man seinen Lebensentwurf verwirklichen kann”, erklärte sie. Notwendig dafür seien soziale Voraussetzungen wie soziale Sicherheit und Planbarkeit. Eingeschränkt sieht sie diese Freiheit jedoch für all die Menschen, die derzeit nur noch befristete Arbeitsverhältnisse haben, aber auch für diejenigen, die in Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit nur noch für ihren Job leben. „Bei Freiheit müssen die elementaren, sozialen Grundlagen immer mitdiskutiert werden.”

Damit war das Gespräch bei den wirtschaftlichen Vorstellungen von Wagenknecht angekommen, die klar erklärte: „Es gibt Bereiche, wo der Markt nicht funktioniert.” Als Beispiele nannte sie die Versorgung der Menschen mit Wasser und Energie. „Und auch die Gesundheit gehört auf keinen Markt!” Aber wie sollte das funktionieren mit der dafür notwendigen Enteignung von Unternehmen? Wie das gehen könne angesichts nicht gerade rosig bestückter Haushaltskassen der öffentlichen Hand und zu leistender Entschädigungen?, fragte Herwartz. Wagenknecht verdeutlichte ihre ganz andere Sicht der Dinge. Die Menschen würden doch heute enteignet, konterte sie. Mit jeder Stromrechnung würden sie dafür sorgen, dass die Konzerne Gewinne machen könnten. So viel Geld, wie die Banken zur Bankenrettung ausgeben würden, hätten sie gar nicht an eigenem Kapital. „Wir erleben ständig Enteignung.” Was in Deutschland landläufig als Enteignung verstanden werde, sei doch nur die „Rücknahme vergangener Enteignung” auf dem Weg in eine gerechtere Wirtschaftsordnung.

Für weitere große Wirtschaftsbereiche wie etwa die Automobilindustrie sieht Wagenknecht die Verstaatlichung nicht als Mittel der Wahl. Ziel hier ist für sie eine sukzessive Übertragung auf die Belegschaft. Auch an der EU ließ sie kein gutes Haar. „Der Brüsseler Weg ist die Konzentration von Wirtschaftsmacht in Europa.”

Zurück in Deutschland, mit Blick auf die drohende Altersarmut, brachte Wagenknecht den Begriff der „Humanität” ins Gespräch. Humanitär sei ein Staat, der die Kinder und die alten Menschen im Blick habe. „Beides ist in Deutschland ziemlich problematisch.” Es folgte ein Vorschlag für die Rente: kein „riestern” mehr - ein „soziales Verbrechen” - stattdessen Erhöhung der Beiträge, diese für alle Einkommen, also auch für Selbstständige und Beamte. Daraus ergebe sich „sehr wohl eine standardsichernde Rente” für alle Menschen, die 30 bis 35 Jahre gearbeitet hätten, erklärte sie. „Das ist alles eine Frage des politischen Willens!”

Mit Hinweis auf das neue Parteiprogramm schloss Herwartz mit der Frage nach der Koalitionsfähigkeit der Linken. „Ein Parteiprogramm ist visionär”, sagte Wagenknecht. „Eine Partei, die das nur für zwei Jahre aufstellt, hat schon aufgegeben.” Arbeit müsse neu verteilt werden, verteidigte sie auch die 30-Stunden-Woche. Die Bundeswehr sei bis 1999 gar nicht im Auslandseinsatz gewesen. „Und seit sie es ist, ist die Welt auch nicht besser geworden”, so ihr Nein zu Auslandseinsätzen. Andere Parteien würden sich doch in Grundfragen kaum noch unterscheiden.

In der kurzen Diskussionsrunde mit dem Publikum erntete Wagenknecht viel Lob. Gerne hätten die rund 130 Zuhörer in der Heinsberger Buchhandlung Gollenstede Sahra Wagenknecht noch länger zugehört und noch länger mit ihr diskutiert. Aber nach 90 Minuten eilte die Vizevorsitzende von Partei und Fraktion „Die Linke” schon wieder zum nächsten Termin.