Aachen: Das Smartphone lässt im Hof die Knochen tanzen

Aachen : Das Smartphone lässt im Hof die Knochen tanzen

Im Schnitt alle 70 Jahre, sagt Wolfgang Raabe, müssen die Strom-, Gas- und Wasserleitungen und Kanäle erneuert werden. Geht man von 8000 Kilometern Leitungsnetz in der Stadt Aachen aus, so der Leiter von Netzplanung und Bau bei der Stawag weiter, seien das schnell 20 Kilometer Baustellen im Jahr. „Das entspricht 100 bis 120 Einzelbaustellen pro Jahr.“ Danach fühlt es sich für die Aachener auch an, wenn sie täglich Umleitungen fahren müssen und hoffen, dabei nicht in die nächste neue Baustelle zu geraten.

In der Innenstadt jedoch, genauer gesagt im Hof nahe Katschof und Dom, da ist die Baustelle der Stawag ein Anziehungspunkt. Hier fanden Wolfgang Raabe und seine Leute die „sprechenden Knochen“.

 Der Schacht: In fünf Metern Tiefe werden die Kanalleitungen im Hof erneuert. Bei etwa 1,30 Meter wurden die Knochen gefunden.
Der Schacht: In fünf Metern Tiefe werden die Kanalleitungen im Hof erneuert. Bei etwa 1,30 Meter wurden die Knochen gefunden. Foto: Andreas Herrmann

1200 Jahre Geschichte

 Vorsicht, Fund! Archäologen begleiten Baumaßnahmen wie die im Hof. Sie untersuchen den Aushub und erkennen sofort, ob es sich um historisch bedeutsames Material — wie dieses Skelett — handelt.
Vorsicht, Fund! Archäologen begleiten Baumaßnahmen wie die im Hof. Sie untersuchen den Aushub und erkennen sofort, ob es sich um historisch bedeutsames Material — wie dieses Skelett — handelt. Foto: Stremke

Vor ein paar Tagen war im Hof denn auch großer Andrang. Die Stawag stellte eine ebenso unterhaltsame wie informative Innovation vor, die auf 1200 Jahren Geschichte beruht. Und das kam so: Es war im Sommer 2013, als die Stawag nach umfangreicher Planung begann, den Kanal im Hof zu erneuern. Längst überfällig, da die Leitungen im Jahr 1895 verlegt worden waren.

Aachen: Das Smartphone lässt im Hof die Knochen tanzen

„An solchen Stellen werden die Stadtarchäologen von vornherein schon in die Bauplanung einbezogen“, sagt Wolfgang Raabe. Die Stawag hatte entschieden, die Arbeiten unterirdisch durchzuführen. Denn mit historischen Funden sei in der denkmalgeschützten Innenstadt zu rechnen und Geschäfte und Gastronomie sollten so wenig wie möglich belastet werden. Also musste anstelle einer großflächigen Öffnung nur ein Schacht — dieser aber fünf Meter tief — freigelegt werden. Von diesem aus werden dann Stollen entlang der alten Kanäle gegraben. Die Bagger hatten kaum begonnen, den Schacht auszuheben, da kam es, wie es kommen musste.

Eine Sensation

„Das war auch für uns eine Sensation“, sagt der Baustellenleiter heute. Schon nach etwa 1,30 Meter wurden menschlichen Knochen entdeckt. Ab diesem Zeitpunkt standen die Bagger still, es ging mit Spachtel und Pinsel voran — Millimeterarbeit.

So ging es im Hof plötzlich nicht mehr um 120 Jahre alte Leitungen, sondern um vor über 1200 Jahren verstorbene Menschen. Sie lebten in der Merowinger-Zeit noch vor Kaiser Karl und wurden nach ihrem Tod in Aachen beigesetzt. Nach umfangreichen Analysen kamen die Skelettteile ins Stadtmuseum, das Centre Charlemagne am Katschhof. In der eigens für sie konzipierten Ausstellung „Sprechende Knochen“ waren die Individuen, wie die Archäologen die Funde nennen, bis Mitte August zu sehen.

Viel zu schade, diese Ausstellung nun wieder in die Archive zu bringen, fand David Lulley, Baustellenkommunikator der Stawag. Und so kam es zum großen Andrang im Hof. Oder wie David Lulley sagt: „Wir haben die Ausstellung von drinnen nach draußen geholt und sie so für jeden zugänglich gemacht.“

Möglich ist das Dank der Technik, die schon im Stadtmuseum eingesetzt wurde. Augmented-Reality-Technologie nennt sich das, was vereinfacht gesagt eine App ist, die Knochen zum Fliegen bringt. Auf einem Smartphone installiert, ermöglicht sie eine Zeitreise, die bisher den Museumsbesuchern vorbehalten war. Ähnlich wie bei einem QR-Code erfasst die Kamera des Smartphones oder Tablets die Informationen am unteren Rand des Bauzauns im Hof. Auf dem Bildschirm setzt sich das Skelett zusammen, das der Benutzer drehen kann, um einen Einblick in die Knochen und ihre Geschichte zu bekommen.

Unter dem Titel „Sprechende Knochen im Hof“ finden sich auf dem Bauzaun insgesamt vier Stationen — eine für jedes gefundene Individuum. Außerdem gibt es eine Kinderecke, in der Emil Erdmann uns Tierskelette richtig zuordnen lässt.

Emil buddelt für die Zukunft

Apropos Emil Erdmann. Er ist mittlerweile das Gesicht der Stawag, wenn es um Baumaßnahmen geht. David Lulley sagt: „Emil buddelt für die Zukunft, so dass wir auch weiterhin die Versorgung unserer Bürger mit Wasser, Strom und Erdgas gewährleisten können.“ Denn — zurück zum Anfang — genau darum geht es ja trotz aller spektakulären Funde: um die sichere Energieversorgung der Bürger durch Substanzerhaltung der Netze.

Bagger, Baustellen und Umleitungen in der Stadt bleiben lästig, keine Frage. Aber noch schlimmer wären die Beeinträchtigungen, wenn die Versorgungsnetze zusammenbrechen, bevor die Stawag anfängt zu buddeln. Oder wie Wolfgang Raabe es formuliert: „Wir sorgen dafür, dass ein lebendes System erhalten bleibt. Sanierungsmaßnahmen im laufenden Betrieb sind mit hohem Kosten- und Zeitaufwand verbunden. Aber stellen Sie sich einmal vor, wir würden Ihnen für acht Monate Strom, Wasser und Abwasserkanal lahmlegen?!“ — Aachen wäre dann wohl zurück in den Lebzeiten der vier Skelette!

Die Sanierungsarbeiten im Hof sollen im Sommer 2016 abgeschlossen werden. So lange — oder wenn es sein muss länger — sind immerhin die „Sprechenden Knochen“ am Bauzaun zu sehen.

(nd)